Theobald Fuchs: »Wissenswertes über Erlangen«

Einer meiner Schwager ist zu intelligent für diese Welt und zieht sich deswegen von Zeit zu Zeit in das psychiatrische Bezirkskrankenhaus der Stadt Erlangen zurück. In der dortigen geschlossenen Abteilung vertreibt er sich dann für ein paar Wochen die Zeit im Wesentlichen mit Rauchen und Lesen.

Angelegentlich meines Besuchs lud er mich zum Abendessen ein. Es war zwar erst kurz nach drei Uhr Nachmittag, aber ich wollte nicht haarspalterisch erscheinen und folgte ihm in den Speisesaal. Man tischte mir das gleiche Menü auf wie den Stammgästen: eingetrocknetes Katenbrot belegt mit Pizza-Leberkäse, dazu ein Beutel-Hagebuttentee, der viel zu lange gezogen hatte. Zufällig handelt es sich dabei um exakt meine Allzeit-Lieblingskombination von Speise und Getränk. Ich teilte diese Tatsache in aller Unschuld meinem Schwager mit, doch der sah mich völlig entgeistert an und antwortete: »Wenn du das hier den falschen Leuten sagst, behalten sie dich gleich da.«

Während ich mit unvermindertem Appetit weiter aß, bewahrte ich sicherheitshalber Stillschweigen. Mein Schwager las währenddessen sowieso irgendeinen alten Philosophen, sei es Epikur, sei es Seneca – es spielt keine Rolle. Als ich mir noch ein letztes Tässchen blutroten Hagebuttentee einschenkte, gesellte sich ein zappelnder Ex-DJ zu uns, der auf seinem letzten Rave – im übertragenen Sinne – in der Pforte zur erweiterten Wahrnehmung von der zufallenden Tür eingeklemmt worden war.

Der durchgeknallte DJ ließ sich auf einen Plastikstuhl krachen und fragte, ob in dem Buch, das mein Schwager las, etwas Wissenswertes stünde. Mein Schwager antwortete eiskalt: »Es geht um Erlangen.«

»Was! Um Erlangen – echt wahr?« verdutzte sich der DJ.

»Ja, um das Erlangen von Glück«, beendete mein Schwager den Kalauer und brach in hysterisches Gelächter aus.

Im Anschluss begaben sich sich mein Schwager und der DJ in trauter Zweisamkeit in den Aufenthaltsraum. Sie setzten sich aufs Sofa und verkündeten im Chor, sie wollten sich nun »eine Folge Simpsons reinziehen«. Ich setze mich zu ihnen und sah mich verstohlen um. Ich erspähte noch eine Handvoll anderer Insassen, die sich in dunkle Ecken verkrochen hatten, von dort aber anscheinend aufmerksam das Fernsehprogramm verfolgten. Mein Schwager und der DJ jedenfalls amüsierten sich königlich über Homer, der in der aktuellen Episode kopfüber in die Schlucht des Grand Canyon abstürzt und bei jedem Aufprall auf einem Felsvorsprung »Aua-autsch!« schreit. Sie kriegten sich kaum noch ein vor Lachen und riefen immer wieder: »Mann, ist der verrückt!«

Alle Anwesenden rauchten. Überall in der Station hingen an den Wänden kleine Kästchen, an denen Zigaretten entzündet werden können, indem sie in ein kleines Loch an der Vorderseite eingeführt werden. Diese Feuerbrunnen waren bombenfest angeschraubt und aus der unerreichbaren Tiefe des Loches leuchtete gespenstisch eine Glühwendel. Ich war der einzige, dem diese Apparatur nicht geläufig war.

Als die Familie Simpson am Ende wieder einträchtig und zufrieden auf dem Zeichentrick-Sofa saß, standen alle auf, um die nächste Kippe anzuzünden. Mein Schwager reihte sich an einem der Feuerbrunnen in die Warteschlange ein. Ich nutzte die Gelegenheit, mich bei ihm zu verabschieden, und machte mich auf den Heimweg. Es hätte mich freilich gereizt, zu beobachten, wie Emergency Room oder die Cosby Show in diesen Kreisen aufgenommen werden, aber leider rief mich die Pflicht.

Beim ersten Supermarkt machte ich Halt und kaufte ein Pfund Pizza-Leberkäse sowie eine Packung Hagebuttenteebeutel. Mein Feuerzeug hätte ich beinahe in einen Abfalleimer geworfen, doch dann fiel mir ein, dass meine Liebste sicherlich dagegen stimmen würde, wenn ich zu Hause für jedes Zimmer einen Feuerbrunnen beantragte.