Volker Surmann: About Busfahrer

Es gibt Momente, da kann man am anderen Ende der Welt sein und man fühlt sich wie daheim in Berlin, wenn einen Busfahrer anschnauzen zum Beispiel. Der Fahrer der Linie 21 in San Francisco brüllte mit der ganzen Macht seiner Stimme: »Please move from your seats, thank you!«

Man muss wissen: In San Francisco sind gut fünfzig Prozent der Plätze in Bussen für Behinderte und alte Menschen reserviert. Man darf sich dort hinsetzen, zumindest, bis entsprechend hilfsbedürftige Menschen einsteigen. Wie gesagt, das muss man wissen. Und man muss wissen, dass hohes Alter in San Francisco offenbar deutlich früher beginnt als in Berlin. Wir brauchten daher ein wenig, bis uns klar wurde, dass der brüllende Busfahrer uns meinte: »Please move from the seats for handicapped people and senior citizens! Thank you! Thank you sirs! THANK YOU!«

Mir war bis dato unbekannt, wie aggressiv man Dankeschön sagen kann; der Tonfall erinnerte mich an die gute alte BVG, wenngleich Dankeschön dort freilich nicht zum aktiven Wortschatz gehört, eine Übertragung auf Berlin also in diesem Punkte scheitern muss: »Mit die Drahtesel aber bitte nich in den ersten Wagen, mene Herren, Dankeschön. Dankeschön die Herren. Danke! hab ick jesagt. DANKE, die Herren, D-A-N-K-E!!!« Funktioniert nicht.

Wir hatten jedenfalls bald, aber doch etwas zu spät begriffen, dass wir gemeint waren, und die Plätze im Bus gewechselt. Der Busfahrer maulte und schimpfte vorne noch gute fünf Minuten vor sich hin. Das war wieder sehr berlinerisch!

Völlig unberlinerisch war, was zehn Minuten später geschah: Der Bus hielt wieder, er hatte sich deutlich geleert, da zog der Busfahrer die Handbremse an und kam zu uns nach hinten. Ein Afroamerikaner, Mitte 50, schnell begann er auf uns einzureden: Was hatten wir nun schon wieder falsch gemacht?! Wieder wussten wir nicht, was er von uns wollte. Wir verstanden seine Worte, dennoch brauchte es, bis wir dazu den passenden Sprechakt zugeordnet hatten. Zu ungeheuerlich war der Inhalt seiner Rede: Er entschuldigte sich gerade! Der Busfahrer bat uns um Verzeihung, weil er mit uns geschimpft hatte. Natürlich dürften wir die Sitze für Hilfsbedürftige einnehmen, aber nur solange der Bus leer sei. Wir müssen sehr schuldbewusst dreingeschaut haben. Der Busfahrer schaute uns an, als wollte er uns gleich versöhnlich über die Haare streichen.

In Wahrheit waren unsere Augen aber vor ungläubigem Staunen aufgerissen, wir waren schlicht sprachlos. Man stelle sich einen selbstkritischen Busfahrer der BVG vor. Einen Mann, den nach einer alltagstypischen Schimpftirade, wie er sie dreimal stündlich loslässt, schneidende Selbstzweifel plagen, der dann – nach einer Viertelstunde unermüdlich nagender Schuldgefühle – reumütig zu seinen Fahrgästen kriecht: »Schuldijung, ick hab se da mal eben son bisschen rüde anjefahren, aber dit war nich so jemeint, wa. Wo wollta’n hin?«

»Where do you wanna go?«, fragte uns der Busfahrer, nun mit väterlichem Ton in seiner Stimme.

»Zur Golden Gate Bridge, wir steigen am Presido-Park aus und laufen dann durch den Park zur Brücke.«

»Nee nee«, korrigierte uns der Busfahrer: »Ihr steigt am Presido in die 43 um und fahrt dann zur Brücke.«

Wir wollten aber lieber laufen.

Das komme gar nicht in Frage, insistierte der Busfahrer, die 43 fahre da hin, er zeige uns auch, wo wir umsteigen müssten.

Er kletterte wieder nach vorn hinter sein Steuer und startete den Motor. Irgendwann rief er zu uns rüber, wir müssten jetzt raus und die 43 nehmen.

»Ja«, sagten wir, stiegen aus, blieben draußen vor der Bustür stehen und warteten darauf, dass der Bus weiterfuhr. Der Bus blieb jedoch stehen.

Die Haltestelle sei auf der anderen Seite, rief uns der Busfahrer zu.

»Okay«, sagten wir und blieben stehen.

Auch der Bus blieb weiter stehen. Unser väterlicher Freund, der Busfahrer, bedeutete uns, gefälligst sofort zur anderen Haltestelle rüber zu gehen, er habe nicht ewig Zeit.

Wir taten, wie geheißen, liefen direkt vor seiner Windschutzscheibe lang. Er nickte uns freundlich zu. Dann riss er kurz sein Fenster auf. Was jetzt? Würde er uns noch sein Lunchpaket rausreichen?

»Wait here for the 43. Enjoy your trip!«

»Danke, Paps!« riefen wir. Den Trip hatten wir schon genossen.

Wir warteten, bis der Bus außer Sichtweite war, denn irgendwie fürchteten wir, der Busfahrer könnte im Rückspiegel sehen, dass wir doch nicht die 43 sondern den Weg durch den Park nahmen, sein Gefährt mit quietschenden Reifen auf der Straße wenden und uns anschließend zur Rede stellen.

Schlussendlich stapften wir los. Im Presido Park verliefen wir uns prompt.