Jürgen Witte: Der Abrater

Ein junger Mann steht schon eine ganze Weile wägend vor‘m Schnapsregal. Ich habe ihn beobachtet. Obwohl er so tut, als sei er extrem wählerisch, ist er nur einer von denen, die sich heute mit ihren Kumpels mal die Birne volldröhnen wollen. Von wegen wählerisch! Wahllos grabscht er da nach Flaschen. Hauptsache es sind Prozente drin. Mal einen Whiskey, mal Tequila, jetzt hat er gerade eine Flasche Wodka in der Hand. Ich lungere vor dem Regal gegenüber herum, fast stehen wir beide Rücken an Rücken und ich tue so, als sei ich extrem wählerisch beim Rotweineinkauf. Dabei bin ich das gar nicht. Ich bin kein Rotweinkäufer. Nicht hier. Kein Kaiserstühler Spätburgunder, kein Lemberger aus Württemberg. Pfälzer Dornfelder kommt mir nicht ins Haus. Ich bin in ganz anderer Mission unterwegs. Ich bin nämlich Abrater.

»Tu‘s nicht!« zischle ich also leise, als der eben erst volljährig gewordene Jüngling eine Flasche Grasovka in seinen Wagen stellen will. Vorher bei der Tequilaflasche mit dem affigen roten Plastikhut hab ich das genauso gemacht. Und es klappt. Er zögert. Ich spüre im Genick, wie er nervös wird, wie sein prüfender Blick auf mich fällt. Quatsch! Ich spüre gar nichts, aber ich kann ihn in dem dezenten Spiegel sehen, der das Schnaps- und Weinregal hier in meinen Supermarkt ziert. Wegen der Diebstähle. Er hat diesen Spiegel noch nicht entdeckt. Er ist ganz gebannt am Schnäpse gucken. Und er ist unsicher. Er stellt den Wodka wieder zurück ins Regal. Ich schmunzle. Er will nicht klauen. Er will diese Flasche sicher bezahlen. Nehme ich mal an. Und doch kann er sich nicht entscheiden.

Illustration: Elke Pollack

Das ist mein Erfolg. Ich bin nämlich Abrater. Ganz subtil gehe ich dabei vor. Die Menschen sollen das Gefühl haben, dass ihr eigenes Gewissen gerade zu ihnen spricht. Das geht nicht bei allen. Man muss es dem Menschen schon ansehen, ob der sich abraten lassen will. Manche Leute sind da völlige Klotzköpfe. Die wissen wahrscheinlich gar nicht, dass sie selbst auch mal so etwas wie ein Gewissen haben könnten. Wenn sie nur wollten! Bei anderen dagegen, also bei dem Milchbubi hier, da geht das noch.

Das Abraten ist eine große Kunst. Dass ich das kann, das habe ich eher zufällig entdeckt. Es war vor einem CD-Regal. Neben mir wollte einer gerade eine teure, neue Metallica-CD kaufen. Ich redete damals ganz arglos vor mich hin. »Vergiss es!« zischelte ich. Und was soll ich sagen, der Kerl neben mir guckte sich das Ding in seiner Hand noch mal genau an und dann steckte er die CD zögerlich wieder ins Regal zurück. Und ging seiner Wege.

Seither zischle ich gerne in Läden. Sage Sätze wie: »Das willst Du doch nicht wirklich!«, oder: »Scheiß drauf, geh lieber ein Eis essen!« Oder: »Der Wildlachs wird Deine Probleme auch nicht lösen!« Und ganz oft wirkt das. Kopfschüttelnd gehen diese Menschen dann weiter. Gut, sie kaufen sicher irgendwo anders gleich wieder sinnloses Zeug. Das kann ich nicht verhindern. Als Abrater sollte man nie übertreiben. Einmal, manchmal zweimal hintereinander mache ich das. Mehr geht nicht. Dann werden meine Opfer nämlich unwirsch. Seit Monaten hat sich ihr Gewissen nicht mehr bei ihnen gemeldet und dann passiert so was gleich mehrmals an einem Tag? Da werde die sauer und neigen dann zu Trotzkäufen. Das muss ich schon berücksichtigen, wenn ich als Abrater erfolgreich sein will.

Mein größter Erfolg als Abrater bisher, das war bei

einem Autohaus. Ich stand vor dem Schaufenster und beobachtete von draußen durch die Scheibe ein intensives Verkaufsgespräch. Irgendwann sah der Kunde, wahrscheinlich war er gerade am überschlägigen Kopfrechnen wegen der vielen Extras, da sah er zufällig mal zu mir hin und ich bewegte meinen Kopf nur ein kleines bisschen nach rechts und links. Die Bewegung war kaum zu sehen. Aber danach begann dort drinnen das Verkaufsgespräch plötzlich zu stocken. Der verunsicherte Kunde hat mich nie wieder angeguckt. Er versuchte krampfhaft das glänzende Auto zu fixieren, er strich zärtlich über das glatte, metallic-lackierte Blech, aber die Faszination war wie weggeblasen. Irgendetwas stand da plötzlich zwischen ihm und diesem Neuwagen.

Nach einigen Minuten ging er dann. Er hatte gar nicht kapiert, was da mit ihm geschehen war. Der Verkäufer schon. Als sein Kunde zur Glastür rausging, da machte der Herr in Anzug und Krawatte eine sehr unschöne

Geste mit seinem angewinkelten linken Arm in meine Richtung. Verkäufer sind ja ausgebildetet Zurater und als solche sehr sensibel. Die erkennen einen Abrater sofort. Vor denen muss man sich in Acht nehmen.

Seit diesem Erlebnis war ich endgültig überzeugt von meinen Fähigkeiten. Seither arbeite ich an einer Karriere als professioneller Abrater. Man lernt dabei nie aus. Man kann mich oft vor Schaufenstern sehen, wie ich kurz unmerklich mit dem Kopf wackle. Auch in Kaufhäusern in der Damenkleiderabteilung, nahe bei den Umkleidekabinen. Es gibt viele Orte, wo man als Abrater mit minimalem Aufwand sehr schnell recht gute Erfolge erzielen kann.

Den kleinen Schnapsfreund im Supermarkt habe ich aber nicht geknackt. Bei der nächsten Flasche, einer billigen einheimischen Schnapsspezialität, da getraute ich mich dann nicht mehr, nochmals aktiv zu werden. Selbst der Knabe hätte mich wohl langsam durchschaut. Der soziale Druck, heute Abend mit was Hochprozentigem zur Party aufzulaufen, war zu stark. Aber wahrscheinlich kriegt er von seinen Kumpels eins auf die Mütze, weil er diesen blöden Apfelkorn besorgt hat. Und das dürfte dann ja auch eine abschreckende Wirkung haben für die Zukunft. Und darum geht es schließlich beim Kampf gegen den sinnlosen Konsum.

Jürgen Witte

Jürgen Witte (*1956 in Karlsruhe). 1979 Flucht nach Berlin (West). Vortragender Autor beim ›Frühschoppen‹ und in der ›Reformbühne‹. Salbader-Senioren-Redakteur, lebt in Steglitz und hat nur das alte Web 1.0.