Andreas Scheffler: Man soll nicht »Arschloch« sagen

Das etwa fünf Jahre alte, zur Pummeligkeit neigende Kind am Nebentisch des Speiserestaurants hebt den Blick von seinem Teller mit Fischstäbchen und Pommes, nuckelt kurz an seiner Fanta, steht auf, posiert vor meiner Frau, die gerade mit ihrem Salat beschäftigt ist und kräht: »Du bist aber dick!«

Die Eltern, Mitte 30, reagieren nicht. Sabine kaut zu Ende, schluckt herunter und sagt ruhig: »Ja, das bin ich wohl.«

»Warum?«

»Weil ich gern esse.«

Das Kind überlegt im Rahmen seiner Möglichkeiten. Ich bin mit meinem Salat fertig, hole meine Zigaretten aus der Manteltasche am Garderobenständer und sage, dass ich mal eben vor der Tür eine rauchen werde.

»Du wirst sterben«, konstatiert das Kind.

»Du auch«, konstatiere ich zurück. »Früher oder später.«

Illustration: Elke Pollack

Das Kind fängt an zu weinen und stapft zu seiner Mutter. Gut. Die Mutter lässt ein angekautes Radieschen aus ihrem Mund ploppen und schreit mich an: »Wie können Sie einem Kind so etwas sagen, Sie Arschloch!«

»Ich habe nur die Wahrheit gesagt, und das ›Arschloch‹ in Anwesenheit Ihres Kindes müssen Sie selbst verantworten. Ist es eigentlich ein Mädchen oder ein Junge? Sieht ein bisschen wie Dickie Hoppenstedt aus. Da wusste selbst Opa nicht, ob es ein Zipfelchen hat oder nicht.« Ich gebe dem Wirt und Sabine ein Zeichen, dass ich jetzt echt mal eben vor die Tür gehe.

Gerade habe ich mir auf dem Bürgersteig eine angezündet, da kommt der Mann vom Nebentisch dazu.

»Ich möchte mich für das ›Arschloch‹ von meiner Lebensgefährtin entschuldigen.«

»Wie bitte?«

»Was? Ach, so, nee, nee, Tschuldigung noch mal. Haben Sie vielleicht ne Zigarette für mich?« Ich gebe ihm eine Cabinet und Feuer, er inhaliert tief, wird augenblicklich bleich und lehnt sich an die Hausfassade.

»Das ist meine erste seit fünf Jahren«, erklärt er.

»Warten Sie einen Moment«, sage ich, gehe schnell zum Tresen und lasse mir vom Wirt zwei kleine Kuemmerling geben. Draußen gebe ich dem Lebensgefährten einen, und wir stoßen an.

»Frank«, sagt er, »ich heiße Frank.«

»Andreas«, stelle ich mich vor. Wir kippen den Kräuter und sehen auf die Flaschenböden. Er hat 37, ich 94.

»Du musst zahlen«, sage ich. Er nickt, wir drücken unsere Zigaretten aus und gehen wieder hinein.

»Du stinkst nach Rauch«, sagt die Frau zu Frank.

»Ja«, antwortet er lakonisch.

»Du wirst sterben«, schreit das Kind.

»Ja«, sagt Frank. Die Frau lässt ihre Gabel fallen.

»Wir hatten doch während der Schwangerschaft vereinbart, dass du aufhörst!«

»Hab ich ja auch«, sagt Frank. Der Wirt bringt uns beiden einen Kuemmerling. Wir befinden uns in einer der altberliner Gaststätten im Osten der Stadt, in denen man, wenn man einmal einen Schnaps bestellt hat, solange in regelmäßigen Abständen einen neuen bekommt, bis man ›Stopp‹ sagt.

Der Frau fällt die Kinnlade herunter. »Seit wann trinkst du Schnaps? Und dann noch vor dem Kind.«

»Das ist kein Schnaps«, sagt Frank, »das ist für den Magen.«

»Papa stirbt«, jammert das Kind und fängt an zu heulen. Sabine hat inzwischen ihr Steak au four bekommen, ich meinen Hirschbraten.

»Daran sind nur Sie Schuld«, giftet mich die Schlange vom Nebentisch an.

»Sie hätten halt nicht Arschloch sagen sollen«, sage ich ruhig.

»Arschloch!« schreit das Kind.

»Mia-Sophie«, sagt Frank, »so was sagt man nicht.«

»Aber Mama hat doch auch...«

»Mama redet manchmal Scheiße.«

»Scheiße!« schreit das Kind.

Der Wirt bringt uns noch einen Kuemmerling. Wir prosten uns zu und trinken. Bevor die Frau etwas sagen kann, hebt Frank drohend den Finger: »Sag einfach nichts.« Pause und dann leise vor sich hin: »Olle Schrapnelle.«

»Was ist eine Schrapnelle?« will das Kind wissen.

»Schrapnelle ist der zweite Vorname von Mama.«

»Schrapnelle, Schrapnelle.«

»Halt die Backen!« sagt die Frau mit erhobener Stimme. Mia-Sophie fängt wieder an zu heulen. In den nächsten zehn Minuten spielt sich ein geflüstertes Streitgespräch am Nebentisch ab, einzig unterbrochen von einer weiteren Schnapslieferung. Sabine und ich können in Ruhe aufessen, denn das Kind wird langsam still und hört aufmerksam dem Beziehungsgespräch zu.

Später stehe ich auf dem Bürgersteig und rauche, da kommt Frank dazu, reicht mir ein Fläschchen und bittet mich um eine Zigarette. »Wir hatten ein klärendes Gespräch«, sagt er, »das war mal nötig.«

»Das glaube ich auch«, sage ich.

Er reicht mir die Hand. »Wir haben uns ein Taxi bestellt; müsste gleich kommen.«

»Eins?«

»Ja klar, ist ja jetzt alles geklärt.«

»Na dann alles Gute.«

Die Frau und das Kind kommen aus dem Lokal, und da fährt auch schon das Taxi vor. Mia-Sophie hüpft auf dem Gehsteig herum und singt vor sich hin:

»Fotze, Wichser, Arschloch, Schrapnelle, Fotze, Wichser, Arschloch, Schrapnelle...«

Die Kleine wird morgen in der Kita ordentlich auftrumpfen.