Nils Heinrich: Die Folgen der Globalisierung

»Erleben Sie Fernsehstarkoch Tim Mälzer live auf der Bühne – seine Ham se noch Hack? Kochshow gastiert live im Tempodrom!« Ich weiß noch, wie ich sehr stutzig das in meine Küche plärrende Radio anstarrte, weil ich glaubte, selbiges hätte mir gerade extremen Unsinn erzählt. Im mehrere 1000 Zuschauer fassenden Berliner Tempodrom, wo sonst Drogen konsumierende und Drogenkonsum verherrlichende Rockbands ihre brutal lauten Konzerte geben, sollte ein Koch auftreten und zum Gaudi des Publikums kochen? Ich versuchte, mir das vorzustellen: »Sehen Sie nun, wie Tim Mälzer todesmutig eine Hand voll nichts ahnender Spaghetti in kochendes Wasser schmeißt!« – Trommelwirbel! – Tusch! – »Ja, er hat es getan! Es brodelt! Es zischt! Er hat sich in Gefahr begeben. Unglaublich, dieser Mälzer!« Das Publikum in der restlos ausverkauften Arena applaudiert wie irre. Der Typ auf der Bühne macht Sachen, die wir uns zu Hause nie zutrauen würden. Durch jahrelangen Maggi-Konsum ist unser Blut mit Natriumglutamat verseucht, und das macht blöd. Wir sind die »Generation gekörnte Brühe«. Elektrische Dosenöffner und Mikrowellen haben uns domestiziert. Kartoffeln kennen wir nur geschält und vorgekocht aus dem Glas. Und nun sehen wir im Tempodrom mit großen Stauneaugen zu, wie da ein Küchen-Superstar live auf der Showbühne dreckigen Kohlrabi, scharfkantige Bohnen und andere furchterregende Dinge in die Hand nimmt, schält, zerhackt, kleinschreddert und püriert – also etwas tut, von dem wir schon mal gehört haben, das wir uns aber nie trauen würden. Ja, er KOCHT!

Keine Frage, dass wir uns Eintrittskarten besorgten, um zu sehen, dass aus Brokkoli, wenn man ihn kocht, heißer Brokkoli wird. Und überhaupt: diese Dampfschwaden, die da in einer Tour von dem Ding, das der Mälzer ›Herd‹ nannte, aufstiegen – das war doch Shownebel! Und der roch nach Essen, vermischt mit einem Hauch Schweiß. Es roch also nach Arbeit.

Wir waren angefixt. Wir wurden Fans von Live Shows einer neuen Generation. Es gibt ja Leute, die hatten schon jedes Musical gesehen. Es gibt Menschen, die ihrer Lieblingsband zu jedem Konzert der aktuell laufenden Tournee hinterher reisten. Wir, wir wollten uns jetzt Arbeitsshows ansehen. Denn Arbeit, zumal Arbeit von Hand, war was Exotisches für uns.

In den Straßen gab es ja nur noch Geschäfte ohne Beschäftigte: Backshops, McUhrmachermeister, Zahnarzt-Automaten. Die Globalisierung hatte die meisten Handarbeiten nach China ausgelagert. Nur einige wenige echte Handwerker waren noch zu finden. Doch die kamen meist aus den EU-Beitrittsländern rund um den Balkan. Man ging also für neun Euro zu den bulgarischen Friseurinnen, weil es exotisch war.

Und die übrig gebliebenen einheimischen Handwerker? Die drehten das ganz große Ding. Alle hatten Tim Mälzer, den Konzerthallenkocher, zum Vorbild.

So tourte schon bald der Neubiberger Bäckermeister namens Adi Fritzsche mit seiner von Kamps präsentierten Knusper, Knusper, Knäuschen-Tour durchs Land. In mittelgroßen, gleichermaßen dunklen wie verranzten Rockdiscos setzte er vor Beck‘s trinkenden Jugendlichen Hefeteig an – mit wilden, alles fressenden und dann in den Teig furzenden Hefebakterien drin! Dann rollte er den Teig aus und formte echte, authentische Brötchen daraus! Live!

Zum Schluss seiner Show setzte Adi Fritzsche zum Stagediving auf einem Backblech an. Wer Brandblasen vom Backblech davontrug, war cool. Der war nämlich vom Bäcker gerockt worden!

Das nächste, noch größere Ding war ein original Show-Schuster. Der hieß Hans-Heinz Brosam. In Arenen wie dem Berliner Velodrom, der Mannheimer SAP Arena, der Hamburger Domestos-Halle und dem Kölner Always Ultra-Dome reparierte der auf einer riesigen Bühne, die aussah wie eine Einlegesohle, Schuhe. Live! Der trieb da echte Nägel in die Dinger rein! Mit einem Hammer! Die Leute fielen massenhaft in Ohnmacht, Auch wegen des geilen, strengen Showschuhgeruchs in der ersten Reihe. Brosam, der Showschuster, coverte auch alte, abgelaufene Schuhe. Es gab kein Halten mehr, wenn er aus dem Publikum eine Frau auf die Bühne holte, und die dann vor tausenden von Zuschauern Damenschuhe anprobierte. Der Saal: eine einzige La-Ola-Welle! Und nach der Show zum Merchandising-Stand, um sich Schuhlöffel mit Brosams Gesicht drauf zu kaufen.

Nach einer gewissen Zeit jedoch stellten sich bei den Fans der Handwerksshows Symptome der Übersättigung ein. Ein ehemals angesagter Fleischer, »Johannes der Schlachter«, der vor Publikum Kaninchen, Schweine, ja sogar Kühe abstach, ausnahm und zu Wurst zerhäckselte, spielte nach seiner grandiosen Welttournee plötzlich nur noch in spärlich bestuhlten Kellercomedyclubs. Ein ehedem berühmter Autoschlosser bekam nicht mal mehr Vernissage-Kurzauftritte in Galerien, die von ambitionierten, aber talentfreien Künstlern in so genannten Großstadtproblembezirken betrieben wurden. Also reparierte der einstige Star hinter einem Spendenhut Altautos in der Fußgängerzone, während Ausschnitte aus seinen früher einschaltquotenstarken Schrott-Shows in der Glückwunschantenne – die aufgrund des  demographischen Wandels längst wieder auf Sendung war – abgenudelt wurden.

Es war traurig, zu sehen, wie unsere ehemaligen Stars in so genannten »Goldenen Handwerkerparaden« von Dorfbühne zu Dorfbühne gereicht wurden, wie die ersten Ex-Stars begannen, alkoholkrank wegzusterben.

Wir hingegen haben uns längst wieder umorientiert. Denn das ganz große aktuelle Ding ist es, Schriftstellern beim Schreiben ihrer Texte zuzugucken. Ein Hammershowkonzept! Demnächst wird der Dunkelheit in tiefer Finsternis-Autor Max Sarah Schulze in der Stadt sein, der angeblich noch mit seiner Hand schreibt! In einen Spiralblock! Man sagt, er wird sogar live auf der Bühne die Tintenpatrone wechseln. Mann, was sind wir gespannt!