Robert Rescue: Ein Mann im Fokus wissentschaftlicher Forschung

Da steht Horst mit seiner Bierdose am Bahnsteig der U8 am Hermannplatz und hört sich mäßig interessiert die Rede von Sonja an. Die droht, irgendwen umzubringen, falls derjenige versuche »über sie zu steigen«. Eine interessante Formulierung, ein anregendes Bild, das Sonja da zeichnet. Ich verstehe nur nicht, was sie meint. Bedeutet es, dass sie nicht will, dass wer über sie hinweg steigt, wenn sie am Boden liegt und nicht mehr hochkommt, weil sie zu betrunken ist? Oder ist das eine sexuelle Anspielung? Ist etwa Horst damit gemeint? Das wäre dann ein völlig neuer Aspekt in seinem Leben. Horst nickt und versucht, sich eine Zigarette anzuzünden, was ihm nach, von mir penibel gezählten, vier Anläufen gelingt. Ich notiere sämtliche Verhaltensweisen von Horst in einem Heft und sammle damit neues Material für meinen nächsten Vortrag.

Ich hatte am Hermannplatz beruflich zu tun, denn ich bin »Überhorst«-Forscher. Regelmäßig wird Horst von mir und meinen Kollegen beobachtet, gleich ob hier am Bahnsteig, in seiner Lieblingskneipe oder im Döner um die Ecke. Gerade komme ich von einem Kongress von »Überhorst«-Forschern, die in Vorträgen die Lebensweise von Horst Müller aus Neukölln vorstellten und debattierten. Mein Beitrag hieß: »Über Horst in seiner gewohnten Umgebung – Bahnsteig U 8 am U-Bahnhof Hermannplatz« und ich erhielt dafür sehr viel Beifall.

Bevor meine Bahn in Richtung Alexanderplatz kommt, versuche ich, weiter den beiden zu lauschen. Horst lässt die Zigarette fallen, bückt sich nach ihr, was ihm einiges an Geschick abverlangt, und als er hochkommt, ruft er zu Sonja: »Über dich Drecksau steige ich doch nicht drüber!«

Ich notiere in meinem Heft zum einen: ›Das hätte Horst auch galanter ausdrücken können‹, zum anderen: ›Vielleicht hat er damit eine Gelegenheit verpasst‹. Ich schaue mir Sonja noch mal genauer an und streiche dann das Letztgeschriebene.

Die U-Bahn fährt ein. Aus den Augenwinkeln heraus bemerke ich Gerhard. Gerhard schreibt über mich. Ich weiß, dass er mich beobachtet, und ich bin überzeugt, dass er nur berichten kann, dass ich über Horst aus Neukölln schreibe, der wiederum nicht ahnt, dass ich über ihn berichte, wie ich glaube.

Bei der Gelegenheit, ich kenne den sehr gut, der über Gerhard berichtet, und wenn ich daran denke, was der mir über ihn erzählt hat… na, lasse ich das mal.