Tube: Untypischer Tagesbeginn an einem Montag

Montag morgen, 5 Uhr 30, der Wecker klingelt. Mann, ist das noch früh. Ich drücke die Snooze-Taste und kuschele mich noch einmal in die Bettdecke. Ich träume meinen Lieblingstraum, der um 5 Uhr 35 bösartig abgewürgt wird. Der Wecker! Mann ist das noch früh. Ich drücke die Snooze-Taste und kuschele mich noch einmal in die Bettdecke. Gleich werde ich aufstehen müssen, noch fünf Minuten, bis der Wecker wieder klingelt. Nur noch fünf Minuten.

Ich träume meinen Lieblingstraum. Darin stehe ich auf einer grünen Wiese und ein Schmetterling setzt sich in mein Haar. So ein Quatsch. Das ist gar nicht mein Lieblingstraum. Mein Lieblingstraum geht so: Ich liege im Bett, kuschele mich in die Bettdecke und träume meinen Lieblingstraum. So ein Quatsch! Rekursionsfehler, Stackoverflow! Der Wecker. Ich hebe den Kopf und schaue auf das klingelnde Display. 5 Uhr 40. Ein Mal noch. Nur noch ein einziges Mal. Versprochen! Ich drücke die Snooze-Taste und kuschele mich in die Bettdecke. Ich träume meinen Lieblingstraum: Wo war ich stehen geblieben? Ich kann mich an nichts erinnern. Ich fang noch mal von vorne an.

Montag morgen, 5 Uhr 30, das ist gleich eine Viertelstunde her. Der Wecker wird gleich wieder klingeln, und dann muss ich aufstehen. Dann muss ich wirklich aufstehen. Ach was! Ich steh sofort auf. Ich komme dem Wecker einfach zuvor. Ich werfe die Bettdecke beiseite und stehe auf. Mann, ist das noch früh. Ich schlurfe halbschlafend in die Küche und befülle den Wasserkocher mit Wasser für Kaffee. Im Zimmer klingelt der Wecker. Was für ein unerträgliches Geräusch. Wie der Blitz schieße ich ins Zimmer, drücke die Snooze-Taste und kuschele mich in die Bettdecke. Was für ein eigenartiger Reflex. Ich träume meinen Lieblingstraum: Eine weiße Fee kommt herbeigeflogen und sagt: »Tube, steh auf! Der Kühlschrank kocht über.« Ich werfe die Bettdecke beiseite, springe aus dem Bett und sprinte in die Küche zum Wasserkocher. Kaffee!

Im Zimmer klingelt der Wecker. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Nein! Ich darf nicht die Snooze-Taste drücken. Ich muss den Wecker ausschalten, und dann muss ich mich dizipliniert dem Bett fern halten, denn ist der Wecker erst ausgeschaltet, lastet die gesamte Verantwortung auf mir. Schließlich muss ich gleich los und allzu spät will ich nun auch nicht zur Disco ins Kaffee Burger kommen.

Illustration: F.W. Bernstein

Mal sehen, was sich noch abkriegen lässt. »Vor um halb sechs brauchst du da gar nicht hingehen«, hat Jero oder Uli oder jemand anderes, ich weiß nicht mehr, neulich gesagt. »Vor um halb sechs, da tanzen sie noch, da sind sie noch nicht besoffen, da gibts nichts wegzuschleppen.«

Die Zeiten ändern sich. Früher war alles anders. Da konnte man nachts um halbeins schon so manches Schnäppchen machen, wenn man gekonnt in das Gespräch mit der Gesprächspartnerin, die man gekonnt in ein Gespräch verwickelt hatte, eine Satz wie »Gehen wir jetzt zu dir oder zu mir« einstreute. Und dann ist man zu dir oder zu mir gegangen, meist ich zu mir und sie zu dir, manchmal wir zu uns, nie aber sie zu mir und ich zu dir, in der Regel eigentlich nur irgendwohin, bis dann wieder ein anderer Tag kam, der anders war als jener.

Heutzutage werden nachts um halb eins Busse voll amerikanischer Touristen ins Kaffee Burger gekippt. Der Reiseveranstalter verspricht seinen Touristen eine nächtliche Tour durch die berüchtigte Berliner Tanzszene, er habe organisiert, dass sie als V.I.P. umsonst ins Kaffee Burger dürften, obwohl sowieso jeder ins Kaffee Burger umsonst rein darf. Doch das Spiel wird aufgeführt, die Touristen bekommen vom Reiseveranstalter V.I.P.-Stempel auf den Arm gestempelt, und im Kaffee Burger stellt sich um halb eins ein Einlasser an die Tür, der die Stempel der Touristen kontrolliert. Sind die Touristen drin, geht der Einlasser wieder weg. Und dann tanzen die Touristen, sie fotografieren sich beim Tanzen, sie fotografieren ihre Schnäpse, sie trinken ihre Schnäpse und sie tanzen und tanzen zur Russendisko von DJ. Lt. Surf, auf der auch der ›völlig losgelöste Major Tom‹ von Peter Schilling zu hören ist, in der englischen Version, wegen der amerikanischen Touristen, versteht sich, und zu alldem glaubt der bis aufs Maximum zugedröhnte DJ, dass das Lied von Falco sei, weil seine selbstgebrannte CD falsch beschriftet ist. Macht aber nichts. Weil das Lied so gut funktioniert hat, spielt er es gleich zweimal hintereinander, und die Touristen tanzen und alle tanzen und tanzen und tanzen die ganze Nacht.

Nichts für mich. Da leg ich mich doch lieber hin, denn so hat alles keinen Sinn, ich träum, dass alles besser wird, dass endlich was passiert. Mein Lieblingstraum, der bösartig vom Wecker vernichtet worden ist. Mann ist das früh, Mann bin ich müde, ich muss jetzt los, kurz vor sechs, jetzt muss ich zur Disco gehen. Mann, hab ich eine Lust.

Doch dann in der Disco werde ich eine schöne Frau ausmachen und ich werde auf sie zugehen und sie ansprechen: »Hey, du! Nur für dich, extra für dich habe ich mir einen Wecker gestellt.«

Illustration: F.W. Bernstein