Hinark Husen: Gewichtsbetrug

Dass der Wedding ein hartes Pflaster sein kann, dürfte hinlänglich bekannt sein, weniger bekannt ist wohl noch, dass er in der jüngsten Zeit Heimstadt für einen perfiden Trickbetrüger ist. Ein Schwarzafrikaner treibt in der Müllerstraße und im benachbarten Sprengelkiez sein Unwesen, indem er Senioren anspricht und diesen weismacht, er könne ihr exaktes Gewicht schätzen, wenn er sie nur einmal kurz anhebt. Und eh sich Opa oder Oma Krause dann versehen, schweben sie über dem Bürgersteig und werden en passant ihrer Portemonnaies ledig und so um ein paar Gramm leichter. Denn diese lebende Waage fingert dabei behände in den Taschen ihrer Opfer.

Gestern war im Anzeigenblättchen »Berliner Abend« wieder zu lesen, dass ein gehbehinderter Rentner vermittels dieses infamen Tricks um seine Barschaft erleichtert wurde. Da fragt man sich natürlich, haben denn all die Opfer keine Personenwaage zu hause? Kann der Mann damit wirklich auf seine Kosten kommen und wie viele der älteren Leute lassen sich tatsächlich von dem Kerl hochnehmen? Um es mit Schiller zu sagen: Seid umschlungen, Millionen! Oder was?

Einem guten Bekannten von mir war es Tage zuvor schon ebenso ergangen. Der gute Mann wiegt satte 90 Kilo, würde ich jetzt mal schätzen, und der Kerl hat dennoch herzhaft zugegriffen und etwas abgehoben. Dummerweise befand sich kein müder Cent in der Geldbörse meines Bekannten, zumal er sich gerade auf dem Weg zum Geldautomaten befand. Nach wenigen Minuten tauchte dann der Gewichtsbestimmer wieder auf und gab ihm das leere Portemonnaie zurück. Es müsse meinem Bekannten wohl aus der Tasche gefallen sein.

Ich hätte nur zu gerne mal gesehen, wie unser Kerl seine Masche mit einem arabischen Pubertätsjüngling ausprobiert. Da könnte er neben Geld auch gleich ein paar Joints mit abgreifen. Wäre natürlich ebenso möglich, dass er sich an den Jungs deutlich verheben würde. Leider war der Zeitungsmeldung auch nicht zu entnehmen, ob der Mann bei seinen Schätzungen überhaupt richtig liegt! So was interessiert doch auch! Wenn er wirklich gut ist, könnte er sich auf einen U-Bahnhof stellen und ganz legal damit Geld verdienen.

Da hätten sich die Leute abends auch was zu erzählen. »Stell dir vor, heute bin ich von einem Schwarzafrikaner gewogen worden. Ja, richtig gewogen, der Mann steht da jeden Tag am U-Bahnhof neben der alten Waage. Das kostet ein bisschen mehr als die zehn Cent am Automaten, ist aber irgendwie persönlicher, finde ich.«

Wundern tut mich hier schon lange nichts mehr. Vor ein paar Tagen stand ich an der Bushaltestelle am Leopoldplatz vor dem Stadtplan als eine Schulklasse vorbei kam und den Weg zu ihrem Jugendgästehaus suchte. Ich hab‘s ihnen erklärt. Schließlich stand ich ja auch direkt vor der Karte. Da kam doch der Lehrer und bedankte sich derartig überschwänglich, dass ich, glaube ich, echt ein bisschen rot geworden bin. Die Berliner, so der Lehrer, seien die mit Abstand liebenswürdigsten Menschen, die ihm bisher begegnet sind. Eine solche zuvorkommende Freundlichkeit sei ihm bisher noch in keiner anderen Stadt begegnet.

Den weddinger Seniorinnen nahebei kippte sichtbar die Kinnlade herunter, denn der überschwängliche Lehrkörper konnte sich in seiner Begeisterung über das Gutmenschentum der Berliner gar nicht wieder einkriegen. »Nu kommen sie mal wieder uff‘n Teppich, Alter«, hätte ich sagen sollen, »ick hab ihnen ja keenen 50.000 Euro Koffer jeschenkt, sondern nur mal eben den Weg erklärt!«

Illustration: Elke Pollack

Aber das hätte den wahrscheinlich auch nicht mehr bremsen können. Ich hab nur drauf gewartet, dass die Omas neben mir anschließend das Maulen anfangen, weil, zu ihrer Zeit, da hätte so was nicht passieren können, und da hätte ich denen nur beipflichten können. Mit etwas Glück ist die Reisegruppe vielleicht anschließend dem Schwarzafrikaner in die großen Hände gelaufen. Den Job wollte ich nun nicht auch noch übernehmen, ich käme mir ja sonst bald vor wie ein Kölner oder Kieler, oder wo auch immer die freundlichsten Menschen Deutschlands wirklich wohnen.