Falko Hennig: In der Fussballfalle

Ich sitze in der Fußballfalle, ich habe den heutigen Spielbericht zu schreiben. Dabei überkommt mich eine gewisse Melancholie, wenn ich mir die anwesenden Menschen auf dem Berolinaplatz in Mitte anschaue. In 100 Jahren werden sie alle tot sein und andere werden hier stehen. Dann wäre mir wohler, weil ich dann niemanden kennen würde.

Obwohl es alles fantastische Menschen sind, meine Schriftstellerkollegen und Mannschaftskameraden, viele sind talentierter als ich. Was heißt schon viele? Alle sind sie talentierter als ich, im Fußball und im Schreiben und wahrscheinlich auch in Bezug auf Lebenskunst und Herkunft. Sie fahren teure Sportwagen, haben die richtigen Klamotten an und wissen Bescheid im Literaturbetrieb, im Fußball, bei allem was wichtig ist. Sie können sogar Smalltalk. Das würde ich auch gern können. Über unwichtige Sachen reden, die gar nichts bedeuten; über das Wetter, als wäre es bemerkenswert, dass es vielleicht morgen wieder regnen wird.

Wenn man sich eine Landkarte vorstellt und sich die Mannschaft des Stadtmagazins, gegen die es heute geht, im Norden denkt, dann sind wir im Süden und Andreas Merkel stellt als Torwart den Südpol dar. Ich bin südlich von Nirgendwo, bin nicht in der Anfangsaufstellung, sonst könnte ich ja auch nicht den Spielbericht schreiben.

In unserer Verteidigung stehen von links nach rechts Roloff, Siemens, Willmann und Richter, rechts läuft Schmidt, links Klupp, in der Mitte Nußbaumeder. Diese Position heißt angeblich »Sechs«, Nußbaumeder auf der Sechs also.

Wieso ausgerechnet ich den Spielbericht schreiben soll? Hätte ich gesagt: »Nein, ich will den nicht schreiben!«, dann hätte ich den auch nicht schreiben brauchen. Aber mir war es egal, und jetzt muss ich also ran.

Der Rasen ist grün, es ist Kunstrasen, vielleicht weil wir Künstler sind, die Linien sind gelb. Jörg, unser Schiedsrichter, ist unsterblich geworden durch seine Klarstellung bei einem Länderspiel, wo er mit ungeahnten Englischkenntnissen glänzte, als er zu einem schwedischen Spieler sagte: »Ei pfeif!«

Rinke und Bönt sind unsere Sturmspitzen, Kröchert ist auf der Zehn, was das bedeutet, weiß ich leider auch nicht. Ich vermute, irgendwo in der Mitte vor der Sechs. Und als ob das nicht schon undurchschaubar genug wäre, verwirrt mich Hannemann noch mit vermutlich frei erfundenen Fachbegriffen: »defensive Brückenköpfe« würden angeblich gebildet und eine »Zangengeburt« sei im Mittelfeld geplant. Mit mir kann man es machen. Ich bin der Idiot. Mir kann man so etwas erzählen.

Wieso schreibt ausgerechnet der den Spielbericht, der, wie alle wissen, überhaupt keinen Schimmer hat? »Taktisches Foul von Nußbaumeder, der einzige, der sich was traut.« Wir stehen hier auf dieser Seite des Spielfelds, auf der anderen Seite steht allein Trainer Uli Kuper. Ich frage, ob wir nicht zu ihm hinübergehen sollten, wenn wir eingewechselt werden wollen. Hannemann verneint: »Warum sollten wir zu ihm gehen, wenn er sich außerhalb der Mannschaft stellt?« Jochen Schmidt vollführt einen kräftigen Torschuss in der 16. Minute.

In der 30. Minute wird eine Riesenchance von Rinke, Kröchert und Bönt gemeinsam vergeben. Falsche Einwürfe en masse, Hannemann entfernt sich, schlau wie er ist, begibt sich zum Trainer und wird folgerichtig in der 35. Minute für Richter eingewechselt. Kurz darauf gibt es einen strammen Schuss von Kröchert ins kurze Eck, der aber von Gäste-Schlussmann Alexander Kursawe abgewehrt wird, Richter kommt wieder ins Spiel für Klupp.

Die generischen Spieler sind mit Ohrringen behängt, haben Uhren und Pulsmesser, Hals- und Handgelenkkettchen, sie sind jung und schön. Wir sind dagegen reif, aber noch nicht überreif.

Halbzeit, Siemens befürchtet Konter. Trainer Kuper findet, dass wir eindeutig feldüberlegen seien, wir sollen das Spiel kontrolliert weiter bestimmen. Unzufrieden ist er mit der Chancenverwertung. Es müsse jetzt »auch mal eins reingehen«, sagt er. Und dann bekommen wir Auswechselspieler noch einen Anschiss, weil wir nicht auf seiner Seite des Spielfelds waren, wie könne er uns denn da einwechseln? Hannemann findet unsere Seite aber schöner. Der Trainer ist nicht erfreut und ganz offensichtlich möchte er auch nicht darüber diskutieren.

Ich bin in der Fußballfalle. Bin ich denn mit ganzem Herzen hier? Würde ich nicht lieber bei meiner Liebsten sein? In Neuseeland Fische fangen? Kopulierenden Elefanten zusehen? Die zweite Halbzeit beginnt, Kröchert kommt auf Schmidts Position als rechter Läufer, Bauer auf die Zehn. Bauer ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Schauspieler, das wird uns vielleicht nochmal zugute kommen.

In der 62. Minute pariert Merkel fantastisch, aber dann fällt doch das 1:0 für die Gastmannschaft durch Tim Schäfer. Willmann verliert nur eine Minute später ein Laufduell und Martin Hermann vollstreckt eiskalt zum 2:0 für die bei uns nicht gerade sehr beliebte Stadtillustrierte. Zehrer wird für Bönt eingewechselt, Kröchert wechselt in die Spitze und fast hätten wir nach einem Abwehrfehler noch ein weiteres Tor kassiert. In der 70. Minute muss Kröchert mit Krämpfen ausscheiden und gleich darauf wird es vor unserem Tor wieder sehr gefährlich. Merkel liegt am Boden, hinter ihm wird nur durch die Hilfe eines gnädigen Gottes kein Tor daraus.

Nun komme ich ins Spiel und laufe mit den anderen hin- und her, kann weder das 3:0 durch Jan Steinbuch noch das 4:0 verhindern, letzteres geschossen vom jüngeren Bruder von Martin Hermann. Als ich später herumfrage, weiß niemand seinen Vornamen. Bei uns hat auch noch Matthias Luthardt mitgespielt, es ist ja vielleicht auch nicht so wichtig, für wen er wann eingewechselt wurde.

Das Mitspielen lenkt mich etwas von meinem Phlegma ab, den großen deutschen Roman werde ich doch nicht schreiben, von mir werden keine Büsten in den Bibliotheken dieser Welt stehen, bald wird mich der grüne Kunstrasen decken.

Moritz Rinke kann zu unserer Freude das Ehrentor zum Endstand von 4:1 einköpfen, aber ehe unsere Aufholjagd an Dynamik gewinnt, ist Abpfiff. Immerhin haben wir wieder einen Sonntag in den Arsch getreten, wieder sind wir dem Ende aller Spiele, dem absoluten Endspiel etwas näher gekommen. Wieder konnten wir so tun, als wüssten wir, was wir da machen, und hätten keinen Zweifel am Sinn des Ganzen.