Frank Sorge: Kastanienmann

Der Himmel war kalt, die Luft blau, als ich kürzlich durch den Park meiner Kindheit schlenderte, direkt an meinem Kindergarten entlang. Am frühen Abend lag er geschlossen und verlassen da, ich erkannte den steinernen Elefanten, der immer noch zwischen neuen Spielgeräten im Garten stand. Der Herbst hatte schon Lücken in die Sträucher gerissen und gab den Blick auf die Stelle frei, an der ich, meiner Erinnerung nach, das erste Mal in zärtlicher Neigung von einem Mädchen auf den Mund geküsst worden bin. Sie war ein Jahr jünger, ging in die Vorschule und unvermittelt zog sie mich an der Hand hinter die Büsche bis zum Zaun, schenkte mir einen Ring und küsste mich. Dann rannte sie weg.

Ich stand verdattert im Gebüsch, befühlte das mit Goldfarbe überzogene Liebespfand, steckte es ein und überlegte. Es gab nun drei Optionen:

  1. Ich küsse zurück.
  2. Ich trete aus dem Gebüsch, als wäre nichts passiert.
  3. Ich erzähle meiner wirklichen Freundin, die auch ihre Freundin war, dass etwas passiert ist.

Aus der komplexen Lage ergab sich dann doch noch eine vierte Option, die ich sofort wahrnahm: Überfordert sein. Meiner tief empfundenen, noch ganz keuschen und geschwisterlichen Neigung zur anderen war ich mir sicher, aber diese hier hatte mich geküsst – was es vorher nicht gegeben hatte und sich gar nicht übel anfühlte. Es roch nach Abenteuer. Aber diese schmutzigen Mundwinkel? Ich kam aus der Ecke hervor, als wäre nichts geschehen, rettete also meine Beziehung, und wie es so Sitte ist: Kuss und Schluss, wechselten die Vorschülerin und ich jahrelang kein Wort mehr. Den Ring verwahrte ich sicher. Hatte ich ihn noch irgendwo? Vielleicht in der Kiste im Schlafzimmerschrank?

Gleich würde die Dämmerung anbrechen, ich zog also schnell noch ein paar Schubladen in meinem Gedächtnis auf, holte Namen und Geschichten hervor, als ein Kastanienmännchen über dem Rand eines Fachs hervorsah und mich daran erinnerte, wie ich an ebendieser Stelle, vor dem Zaun des Kindergartens, auf dem Weg, beinahe mal einen Freund getötet hätte. Liebe und Tod, ermahnte mich das Männchen und hob seinen Streichholzarm, gehören zusammen.

Der große Kastanienbaum, unter dem ich stand, war schon damals sehr groß und hoch. Aussichtslos ihn zu schütteln, um die saftigsten Kastanien zu ernten, das braune Gold unserer Kindheit, mit dem wir im Herbst unsere Taschen, Kapuzen und Socken füllten. Meist bastelten wir nicht mal damit, sondern sammelten die Kastanien nur und versteckten sie kiloweise vor den Eltern, so dass es in allen Waschmaschinen der Köllnischen Heide rumpelte und aus unseren Zimmern nach bitterem Schimmel roch.

Die ersten Kapseln waren gefallen, das Goldfieber ausgebrochen. Überall im Park wurden Claims abgesteckt und die Kinder sammelten. So brauchten wir bald Steine, große Steine, die wir gegen die hohen Äste schleudern konnten, die dicksten Äste mit den dicksten Früchten. Zu dritt standen wir so auch unter diesem Baum und schmissen unsere Steine hoch, traten dann zurück und warteten, bis Blätter, Äste, Kastanien und Wurfgeschosse der Schwerkraft folgten. Einen besonders großen und spitzen Stein hatte ich von der Wegbegrenzung gelöst und mit aller Kraft nach oben geworfen, dieser eine Stein, der zu unserer Verblüffung aber nicht zurückkam. Der Baum hatte ihn geschluckt und wir versammelten uns verwundert unter der Stelle und sahen hoch. Dann kam er doch.