Ahne: Wie ich als Ausserirdischer fast mal ins Gefängnis musste

Ich will Fahrkarten kaufen. Nach Gotha soll es gehen. Ich will Fahrkarten kaufen. Fahrkarten kaufen am Alexanderplatz. Dort existiert nämlich der langsamste Fahrkartenschalter der Welt. Da habe ich schon mal zwei Stunden angestanden, obwohl nur vier Leute vor mir dran waren. Und dann haben sie sogar noch vergessen, mir da die eigentliche Fahrkarte auch wirklich reinzutun, in diesen rot-weißen Umschlag, den man seit der Wende oder weiß der Kuckuck seit wann kriegt.

Da war alles mögliche drin, Platzkarten, obwohl ich die meines Wissens nach gar nicht bestellte habe, ich fahr eigentlich immer ohne Platzkarte, anarchomäßig, mein Platz, dein Platz, es gibt kein Recht auf Eigentum, der Platz gehört allen, wenn du aufstehst und zum Klo gehst, setz ich mich dahin, haste Pech gehabt, kannst ja jemand anderen mit unreifen Pflaumen füttern, damit der Durchfall kricht und auch auf Klo muss.

Platzkarten, so ein Quatsch, hab ich neulich sogar in der Kneipe erlebt, saß ich da aufʼm Barhocker und das Bier duftete mich schon von Nahem verlässlich an, da kam doch sie, und sie sagte, dis sei hier ihr Barhocker, sie sei nur eben hinten in dem anderen Raum gewesen, weil da ein Schauspieler – der aus diesem neuen Film – und der hat aber schon ne Freundin und aber jetzt wolle sie sich wieder hier hin setzen auf ihren eigentlichen Stuhl, und mit Stuhl meinte sie natürlich den Barhocker, wo ich gerade gemütlich draufsaß; den ich sogar schon mit meiner Powärme der eigenen Körpertemperatur angenehm angeglichen hatte.

Illustration: Oliver Grajewski

Und ich tat denn natürlich so, als wäre ich ein Außerirdischer mit ohne Ohren, dachte, so könnte man sie ein wenig erschrecken, aber sie hatte anscheinend gar keine Angst vor Außerirdischen, sie begann einfach wie wild an mir zu rütteln und beschimpfte mich aufs Übelste. Nannte mich sogar einen Macho. Dabei war mir ihr Geschlecht vollkommen egal. Ich wollte lediglich ein Bier trinken oder zwei, allerhöchstens drei. Ich hatte auch gar keine Lust auf Streiten, Außerirdische streiten sich nämlich auch gar nicht so gerne wie Menschen, jedenfalls Außerirdische vom Planet Lottumstraße, und die jetzt hier, die wollte sich aber unbedingt streiten, das fühlte ich tief in mir drin.

Außerirdische können ja entgegen landläufiger Meinung fühlen, die können nicht hören, aber fühlen schon. Dis sind gar nicht mal soʼne Technikmonster mit Antennenkrimskrams oder nur so Schleimzeugs, nee nee, Außerirdische fühlen durchaus ziemlich gut sogar.

Ich fühlte mich zum Beispiel sehr wohl gerade, auf dem Barhocker, den ich für die Dauer des Trinkens von einem Bier, oder zwei, oder allerhöchstens – aber dann musste der Barmensch auch danach sofort »Stopp!« sagen – drei Bier zu meinem Lebensabschnittspartner erwählt hatte. Und die lässt man nicht einfach so im Stich, die Lebensabschnittspartner, zumindest in dem Abschnitt, in dem man gerade zusammen ist. Da bin ich durchaus konservativ. Wertkonservativ, falls das besser klingen sollte. Ein wertkonservativer, außerirdischer Anarcho. Jawoll.

Dis konnte ich der jungen Frau anscheinend nicht richtig vermitteln. Wir sprachen wohl nicht dieselbe Sprache. Ihre Kanonaden voller unflätiger Schimpfwörter hörte ich ja zum Glück nicht, aber dass sie mich schließlich schmerzhaft kniff und biss und auf mir rumtrommelte wie Sandy Nelson in seinen besten Tagen, dis zeigte dann doch Wirkung. Wie gesagt, gefühllos sind wir beileibe nicht. Ich bin dann letztlich sportlich fair, wie es sich für Außerirdische geziemt, aufgestanden, nicht ohne mich natürlich von meinem Lebensabschnittspartner Barhocker im Guten zu trennen: Er kriegt das Haus, ich die Kinder und wir bleiben Freunde; bin aufgestanden, habe der Frau die Hand gereicht und ihr zu ihrem Sieg gratuliert.

Und wie ich der da so die Hand schüttelte und ihr ganz ohne Bitterkeit oder Häme zulächelte, da meinte ich doch auch bei ihr zwischen den Gesichtsmuskeln so einen ganz kleinen Ruck bemerkt zu haben. So ein winziges Zucken aber sehr bedeutungsschwanger. Ein bedeutungsschwangeres Zucken. Ja, die Erkenntnis, sie bahnt sich manchmal auf abenteuerlichen Wegen ihren Weg. Blöd jetzt gesagt, aber is von Lao-Tse, is die Originalübersetzung, dis hat der so blöd gesagt damals, in China.

Apropos China! Warʼn da also Platzkarten drin in dem Umschlag, und die Reiseverbindung und weiß der Elch, ich glaub sogar noch Glückskekse, da hab ich wohl auch diesen Spruch her von Lao-Tse, alles bis auf die eigentliche Fahrkarte hattense mir gegeben am langsamsten Fahrkartenschalter der Welt. Dis hab ich da leider aber nich nicht gemerkt, weil ich außerirdischer Trottel da noch gar nicht reingeguckt hatte. Warnung deshalb: Immer da reingucken, immer, sofort umgehend. Dis ist eine Warnung!

Dis hab ich Idiot nämlich gemerkt, als der Schaffner in dem Zug nach Kiel mich da so merkwürdig gemustert hat, nachdem er dis ganze Zeug in dem Umschlag vor und zurück sortiert hatte, und dann hat der denn eben gefragt nach der Fahrkarte, wo ich dann erst dachte, der sei verrückt, aber dis dachte der wohl von mir auch. Und dann bin ich wohl rot geworden – mann, war mir das peinlich – und gar kein Geld dabei, dis war mir peinlich.

Und dann hat der dann da noch andere Leute mit rangeholt, so Uniformierte, und jetzt, dis hat mich dann so an die DDR erinnert, dabei war ich doch eigentlich Außerirdischer. Ich brauchte doch eigentlich gar keinen Schiss zu haben, trotzdem – Mann, war mir das peinlich. Die anderen Reisenden haben bestimmt alle gedacht, dass ich illegaler Ausländer sei, Verbrecher, Nazi, irre oder Fußballfan. Ich hab dann soʼn Zettel von dem Beamten gekricht, soʼn Schein, wo draufstand, dass ich 100.000 Euro oder so zahlen müsste, wenn nicht, käme ich postwendend und ohne über Los zu ziehen ins Gefängnis.

Da hatte ich dann aber doch Glück, dass, als ich da am Alex an dem langsamsten Fahrkartenschalter der Welt mich zurückmeldete, dass da, ausgerechnet am mit Abstand langsamsten Fahrkartenschalter der Welt auch gleichzeitig die mit Abstand netteste Fahrkartenschalterfrau der Welt arbeitet. Die hat mich nämlich wiedererkannt, mir alles geglaubt, irgendwas in ihren schlauen Computer eingetippt, den furchtbaren Beamtenwisch genommen und zerrissen, sich vielmals entschuldigt und mir noch ein wunderbares, langes und erfülltes Leben gewünscht.

Dis hat zwar summa sumarum etwa wieder eineinhalb Stunden gedauert. Aber dis war mir letztendlich egal. Hier nimmt man sich eben noch Zeit. Hier scheißt man auf die Leistungsgesellschaft. Hier ruht die Hand, wenn das Bewusstsein arbeitet. Oder, wie Mao Tsedong schon sagte: »Der Weg ist das Ziel.«

Und darum geh ich da immer wieder gerne hin. Heute sogar schon mal früh um zehn. Denn abends will ich ja nach Gotha fahren und für ne Kleinigkeit essen zwischendurch muss schließlich auch noch Zeit bleiben.