Andreas Gläser: Was macht eigentlich Heintje?

Vor der Rossmannfiliale kommen mir zwei Radfahrer entgegen. Sie sind irgendwas zwischen 14 und 40, wirken durchaus straßentauglich, fahren aber auf dem Fußweg. Ein Bengel und eine Frau – zwei Solisten gegen alle Sicherheitsauflagen. Die Frau verlangsamt ihr Tempo und lenkt etwas ein. Zwei Straßenbauarbeiter gucken sie an. Vielleicht wird etwas aus den Dreien. Der Bengel steuert ungebremst auf mich zu. Ich bin gespannt, wie er sich zwischen Rossmann und mir schlängeln will. Fünf Meter hat er noch. Die Breite seines Lenkers schätze ich auf 70 Zentimeter. Ich gebe ihm 50.

Er rollt unbeirrt an. Sicherlich hat er schon einige schreckhafte Arbeitnehmer zu einem Seitensprung gezwungen und viele kurzsichtige Senioren mit einer Prellung garniert. In seinen Ghetto-Klamotten wirkt er nicht gerade zurückhaltend, aber er sollte sein Basecap wenigstens bewährt originell verkehrt herum aufsetzen. Der Schirm hängt ihm ja dermaßen vor der Fresse herum, der schützt ihn schon davor, dass ihm die Abgase auf der Zunge zergehen.

Keine zwei Meter mehr! Ich trete einen Schritt zur Seite und greife nach seinem Arm. Er scheint zu schlafen, will doch glatt weiter fahren. Es wäre einfacher, ihn aufzuhalten, wenn er nicht solchen Schwung draufhaben würde. Ich halte seinen Arm fester, damit er sich nicht völlig die Kante gibt. Sein Vorderrad schwenkt ruckartig nach links hinten, er stürzt nach rechts vorne. Nun liegt er auf dem Rücken. Seine Häkelhaken befinden sich teilweise unter dem Rad. Und wo ist sein Basecap?

Ich höre seine dünne, wie defensive Stimme. »Aaahhh!« Ein Hilferuf, wie in einem traurigen Lied von Heintje. Aufgrund seiner modischen Vermummung hatte ich mit einem Großmaul jenseits des Stimmenbruchs gerechnet. »Ick will dir nüscht tun!« versuche ich ihn zu beruhigen und reiche ihm die Hand. Heintje hat Angst. Aus den Augenwinkeln nehme ich die Straßenbauarbeiter wahr. Sie werden von der Radfahrerin gerade verlassen und gucken zu uns herüber, als wollten sie sagen: »Du hast dem Bengel gegenüber 25 Jahre mehr Erfahrung als Verkehrsteilnehmer, nun nutze die mal schön aus!« So etwas wie Zivilcourage wird also nicht über mich hereinbrechen. Berlin ist anonym, da kennen die Passanten keine Verwandten. Heintje liegt da, als hätte ich ihn aus dem Bett geschubst.

»Uffstehn! Is keene Liejewiese!« fällt mir spontan ein. Er schiebt die Mitleidsnummer. »Sie ham mir die Hand jebrochen!« Was? Hoffentlich liefert er mir nur eine kleine Show. Na klar! Er stützt sich mit der rechten Hand ab – die, mit der er den ersten Kontakt zum Fußweg hatte. Also weshalb fuchtelt er mit der Linken vor mir herum? So schlecht in der Schule? Ich erinnere mich sofort an den Bundesligaspieler, der am Rasenwinkel eines Fußballfeldes darauf wartete einen Eckball treten zu können. Plötzlich bekam er ein Feuerzeug an den Rücken, zuckte nach kurzer Überlegung mit der Schulter, hielt sich seine Hände theatralisch auf die Schädeldecke und brach im nächsten Moment in sich zusammen. Welch Vorbild für die Jugend. Und ich soll mich jetzt mit einem seiner Nachahmer befassen? Mir ist das zu blöd, ich gehe. Ab und zu werfe ich einen Kontrollblick ins Schaufenster. Vielleicht braut sich eine zweite Runde zusammen. Scheiß Radfahrer – armes Kind.

Stolz und Scham sind das Ying und Yang meiner täglichen Spaziergänge. Soll ich meine angemessene Reaktion unterdrücken, wenn mir ein pubertierender Sozialfall entgegengeschossen kommt? Gemessen an meinen Rachephantasien, bin ich mit Heintje liebevoll umgegangen. Ich möchte diese Radsportterroristen viel häufiger zur Strecke bringen. Optimal wäre es, wenn sich neben der jeweiligen Konfliktstelle zufällig ein Schuttcontainer befinden würde. Ich könnte den Fahrer vom Rad holen und sein Geschoss hinein werfen. Wenn er zuckt, fliegt er gleich hinterher. Viele Passanten würden meine Ordnungsliebe aus einem Sicherheitsabstand schweigend zur Kenntnis nehmen. Einige würden applaudieren und für die sofortige Zusammenlegung von Rad und Fahrer plädieren.

Statistisch gesehen verschwinden über den Zeitraum von zwölf Monaten sowieso viele Menschen, und zwar in der Größenordnung der Einwohneranzahl einer mittleren Kleinstadt. Stört das jemanden ernsthaft? Man fühlt kurzes Befremden und stöbert weiter im Ikea-Katalog. In naher Zukunft werde ich vorsichtig mit dem Rad fahren müssen. Bloß nicht auf dem Fußweg umher schlingern, sonst legt mich irgendein Schicksals-John flach. Im wahren Leben ist es doch so wie in Christian Wolters Buch, in dem der Erzähler in der Kaufhalle eine Kleinigkeit klaut, woraufhin ihm Gott irgendwas vom liebgewordenen Eigentum kaputtgehen lässt.