Andreas Scheffler: Hallo, Herr Bademeister

Was macht ein 18-jähriger Gymnasiast, wenn er an jedem Morgen beim Eintreffen auf dem Schulhof, in der Pause und auch oft nach Schulschluss, von einer Gruppe Quintaner mit »Hallo, Herr Bademeister!« begrüßt wird? – Er wird stinksauer. Und dieses Sauersein steigert sich von Tag zu Tag. An jedem Tag also lauerte mir eine Gruppe von Zwergen auf und rief mehrfach »Hallo, Herr Bademeister!« um mich zu ärgern. Ich habe mich geärgert. Und wie! Selbst wirkliche Bademeister ärgern sich über diese Titulierung. Sie wollen lieber »Schwimmmeister« genannt werden, weil dies den sportlichen Aspekt der Wasserbegehung betont gegenüber dem eher trägen »Baden«. »Schwimmmeister« konnotiert eine Meisterschaft im Schwimmen; wer dagegen möchte schon Meister im Baden sein.

Ich war weder Bade-, noch Schwimmmeister. Ich war Badewärter, eine anspruchslose Arbeit, die ich an mehreren Sommern im Gütersloher Hallenbad ausführte. Man hätte es auch »Kabinenwart« nennen können. Ich musste bei den Herren die Umkleideräume, die Duschen und die Toiletten sauber halten; und wenn der Kassenautomat mal wieder kaputt war, hatte ich den Maschinenmeister zu verständigen. Gelegentlich musste ich einschreiten, wenn Jugendliche durch die Gänge tobten oder über Gebühr die Duschen blockierten. Auch am Versehrten-Badetag war ich zur Stelle, wenn jemand Probleme mit seinem Holzbein hatte.

In der warmen, feuchten Luft des Hallenbades entwickelt man eine stoische Gelassenheit. Man bewegt sich wie in Zeitlupe. Es ist wenig zu tun, folglich kriechen die Minuten mühsam bis zum Schichtende. Die Arbeit ist anspruchslos, trotzdem muss man eine gewisse Autorität ausstrahlen. Angenehme Abwechslung war es immer für mich, wenn ich für zehn Minuten den Schwimmmeister vertreten sollte, weil der mal eben zum Kühlschrank im Aufenthaltsraum wollte. Im öffentlichen Dienst wird viel gesoffen.

Als Schwimmmeister hat man Macht. Man kann Leute anpflaumen, wenn sie vom Beckenrand springen, und man kann willkürlich entscheiden, ob der Dreier geöffnet wird oder nicht. Ich habe diese Momente der Entscheidungskompetenz genossen.

Eines Tages in den Sommerferien nun tauchten drei der oben erwähnen Pimpfe in meinem Arbeitsbereich auf. (»Pimpf« bedeutet übrigens ursprünglich »kleiner Furz«, doch das nur nebenbei.) Sie waren vermutlich noch nicht einmal in die Pubertät eingetreten, aber immerhin schon so weit, Autoritäten von vornherein abzulehnen. Sie schrien und tobten durch die Sammelumkleide – es war die Hölle. Auf den nassen Fliesen kann man leicht ausrutschen; und auch wenn ich mir wünschte, dass diese Produkte einer verfehlten Erziehung sich das eine oder andere Körperteil aufschlugen, wusste ich doch, dass ich im Falle einer Verletzung ziemlichen Ärger an den Hacken haben würde. Also rief ich sie zur Ordnung. Sie reagierten nicht. Eine zweite Verwarnung brachte ebenfalls nichts. Als Wachsoldat hätte ich sie nun erschießen dürfen. Stattdessen erklärte ich, dass ich durchaus die Befugnis hätte, sie des Bades zu verweisen.

»Du bist doch von unserer Schule«, krähte eines der Monster, »wie heißt du eigentlich?« Ich konnte es nicht dulden, in meiner öffentlichen Position geduzt zu werden, also sagte ich: »Ich heiße Herr Scheffler.« Die drei Zwerge lachten sich kaputt und gingen schwimmen.

Vermutlich war es ein Fehler, auf der korrekten Anrede zu bestehen, aber hätte ich mich kumpelhaft anbiedern sollen? Die drei kamen im Laufe des Sommers noch ein paar Mal, hatten aber scheinbar die Lust aufs Randalieren verloren. In Wirklichkeit hatten sie einen eiskalten Plan ausgeheckt, um mich in den Wahnsinn zu treiben. Schon am ersten Schultag nach den Ferien lauerte mir eine Meute gerade in die sechste Klasse versetzter Nervensägen auf und rief über den ganzen Schulhof: »Hallo, Herr Bademeister! Hallo, Herr Bademeister!« Schüler aus meinem Jahrgang drehten sich um und lachten. Dieses eine Mal wäre das vielleicht noch lustig gewesen. Aber so geschah es in der Folgezeit an jedem Morgen, in jeder Pause und oft auch nach Schulschluß. »Hallo, Herr Bademeister!«

Es führte dazu, dass ich versuchte, erst knapp vor Stundenbeginn zu erscheinen. In den Pausen versteckte ich mich in dunklen Ecken. Es nützte nicht viel. Ich schlief schlecht und hatte Albträume. In einem sah ich mich in Bademeisterkluft ans Drei- Meter-Brett gekettet und alle Hallenbadbesucher schmähten mich. Ich hatte weniger Angst vor Klausuren als vor diesen Quintanerzecken. Immer häufiger wurde ich auch von meinen Kurskollegen mit »Herr Bademeister« begrüßt. Lehrer sprachen mich an, was das denn sollte und mussten grinsen, nachdem sie meine Erklärung gehört hatten. Ein Wunder, dass mich mein sadistischer Lateinlehrer Werner Linke nie so genannt hat! Gerne hätte ich die Giftzwerge vermöbelt, aber wie hätte das ausgesehen! Schwächere verhauen ging nicht, auch wenn ich es liebend gern getan hätte. Diese Mistratten hatten die Macht. Und ich musste den Hohn und Spott erdulden.

Das ganze ging etwa drei Monate so. Irgendwann tröstete ich mich damit, dass ich letztenendes doch am längeren Hebel sitzen würde. Im folgenden Sommer sprach ich mehrere befristete Hausverbote aus. Die sind bindend, auch von einer Aushilfe. Die Kinder haben beinahe geheult. Dabei hatten sie gerade etwas Entscheidendes über das Leben gelernt: Sobald jemand über Macht verfügt, nutzt er sie kalt und gnadenlos aus.

Zumindest ich mache das so.