Sarah Schmidt: Ich bin jetzt unsichtbar

Innerhalb der letzten zwei Monate ist etwas Merkwürdiges passiert. Ich wurde unsichtbar. Und zwar ausschließlich für Männer. Einfach so von einem Tag auf den anderen wurde ich von ihnen im öffentlichen Leben nicht mehr wahrgenommen. Das merkt man erst, wenn es nicht mehr da ist. So wie Klopapier.

Illustration: Oliver Grajewski

Was mich daran wirklich störte war, dass ich den Grund nicht kannte. Ich sah in den Spiegel, nein, alles wie immer, ich trag die gleichen Anziehsachen, mir sind keine Warzen gewachsen, nichts. Alles war wie immer. Nur dass ich eben unsichtbar war. Ein merkwürdiger Zustand. Wahrscheinlich, so redete ich mir ein, das Alter. Klar, wenn man genau so alt ist wie ich jetzt, dann springt irgendein Gen um und schwupp, man gehört zum Alter. Genau, so ist das also. Wissenschaftlich interessant.

In solchen Momenten bin ich sehr einfach gestrickt. Ich habe genau zwei Reaktionsmöglichkeiten in meinem Repertoire. Entweder ruf ich meinen Freund Frank an oder Irina. Frank erscheint mir für dieses Problem irgendwie ungeeignet. »Hey Frank, fremde Männer können mich nicht mehr sehen.«

»Na und, ist doch super!« Das will ich nicht. Also Irina, die müsste das kennen, ist schließlich älter als ich. »Ey Irina, bist du eigentlich auch unsichtbar?«

»Hä?«

»Ja für Männer, das kennst du doch!«

»Nö, kann ich eigentlich nicht behaupten. Grade gestern hab ich ... « Es folgte eine ausführliche Beschreibung ihrer neuen Eroberung, während der meine ganze schöne Gentheorie zusammenbrach. Scheiße!

»Und morgen fahr ich nach Helsinki, zu Sven, der hat mich eingeladen, aber ich kann nur drei Tage bleiben, weil übers Wochenende kommt mich Micha aus Frankfurt besuchen, und der muß ja nun nichts wissen von Sven, wa!«

»Irina!«

»Ja?«

»Ich hab ein Problem. Männer können mich nicht mehr sehen!«

»Quatsch, das gibt es nicht. Wie kommst du denn auf sowas?«

»Ich hab's ausprobiert, also Männer, die ich kenne, die gucken mich schon noch an. So normal eben. Nur fremde nicht.«

»Nee, glaub ich dir nicht.«

»Soll ich es dir beweisen?«

Wir verabredeten uns für den Abend, Männer gucken gucken.

*

Wir nehmen eine Bar, das ist immer gut. Gegen Neun öffnen wir die Bartür und stehen etwa vierzig 19- bis 27-jährigen gegenüber. Wir drehen eine Runde. Niemand bemerkt uns. »Ey, siehst du jemanden über dreißig?«

»Nö, nur Frischfleisch, das ist mir zu anstrengend, immer diese Einweisungen geben müßen. Ich meinte ja erwachsene Männer. Wir gehen wieder, oder?«

»Ja.«

Beim Rückzug halte ich die Tür unnötig lange geöffnet. Nach einer Minute ist ein kalter Windzug bei den Leuten am Tresen angekommen. Sie drehen sich um. Na bitte, geht doch. »Tschüss!« rufe ich und winke.

In der nächsten Bar sind zwei Barkeeper und zwei Frauen am Tresen. Na, da setzen wir uns doch zu. Die vier kennen sich und sehen uns nicht an. Wir bestellen einen Drink und harren dem, was da kommen mag. Nach 20 Minuten haben wir ausgetrunken und nichts ist gekommen. Kein einziger Mensch hat die Bar betreten. »Siehste, sag ich doch, keiner sieht mich!«

»Na is auch kein Wunder, ist ja keiner da.«

»Trotzdem!« Irina beschließt eine Stufe niedriger anzusetzen und in eine Kneipe zu gehen. Eine Kneipe, wo immer Männer sind. Und nicht zu knapp. Alte, hässliche, dicke, betrunkene und junge, gutaussehende mit hübscher Begleitung. »Ey guck mal, da ist Jörg.« Irina winkt, Jörg kommt. »Hey Irina.« »Siehste«, flüster ich ihr zu, »das ist der Beweis!«

»Jetzt wart doch mal ab.« Jörg ist nicht alt und fett und besoffen, aber auch nicht jung und gutaussehend. Irgendwas dazwischen und eindeutig auf der Suche. Während ich mehr Wodka trinke, erzählt Irina ihm von ihren verschiedenen Männern. Irgendwann ist Jörg dann endgültig davon überzeugt, dass mit ihm und Irina nix laufen wird, und er sagt »Hallo, wer bist du denn?« zu mir. Irina boxt mir in die Seite, zwinkert mir auffälligst zu und ist völlig überzeugt, dass sie ihre Mission erfüllt hat. Ich will Jörg nicht. Der ist abgelegt. Aus einem Grund, den ich außer mit Wodka nicht erklären kann, tausche ich trotzdem Telefonnummern mit ihm.

*

In den drei Tagen danach fand ich das gar nicht so schlecht. Jedesmal wenn ich der Meinung war, dass Frank nicht nett genug zu mir ist, konnte ich sagen: »Jetzt mal sofort ein anderer Ton hier, sonst ruf ich gleich Jörg an.« Das hat Spaß gemacht. Danach fing Jörg tatsächlich an mich anzurufen. Das war lästig. Nach dem dritten Anruf hab ich mich moralisch zu einer Verabredung gezwungen gefühlt. Ich habe einen sehr anstrengenden Abend verlebt, an dessen Ende ich nicht mehr wusste, was ich mit ihm anfangen sollte. Also nahm ich Jörg mit nach Hause. Dort saß Frank. Das wiederum fand ich super. Ich saß nachts um eins mit zwei Männern in meiner Küche. Die beiden wollten sich partout nicht miteinander unterhalten. Eine halbe Stunde hielt ich das Gespräch in Gang, dann sagte ich: »So, ich geh jetzt schlafen.« Die zwei waren stinksauer, doch das war mir egal. Ich lag im Bett, machte die Augen zu und wurde wieder unsichtbar. Ist doch gar nicht so schlecht dieser Zustand.