Robert Naumann: Wie ich mal frech war

»Sie spinnen wohl?!« soll ich in der siebenten Klasse mal zu Frau Weidemann gesagt haben. So wurde es zumindest im eigens für das Klassentreffen eingerichteteten Forum kolportiert und mit der Frage verbunden, ob es aufgrund dieses fünfundzwanzig Jahre zurückliegenden Vorfalls für mich zumutbar wäre, wenn unsere damalige Klassenleiterin Frau Weidemann ebenfalls zum Klassentreffen eingeladen würde.

Keiner konnte sich allerdings daran erinnern, welche Ursache mein für damalige Verhältnisse unverhältnismäßiger verbaler Amoklauf hatte.

Ich konnte mich an den Grund auch nicht erinnern, nur daran, dass ich ihr in Gedanken oft weit schlimmere Dinge an den Kopf geworfen hatte. Beispielsweise: »Du spinnst wohl!« oder sogar »Du spinnst ja total!«. Zum Glück sind mir diese Dreistigkeiten nie herausgerutscht, wer weiß, ob es dann bei dem Klassenleitertadel geblieben wäre, den ich für »Sie spinnen wohl!« erhalten hatte.

Ich kann das bis heute nicht nachvollziehen, warum ich so hart bestraft wurde. Immerhin hatte ich darauf geachtet, beim Höflichkeits-Sie zu bleiben, und »Sie spinnen wohl?!« war ja auch keine Feststellung, sondern eher eine Vermutung, etwas, dessen ich mir noch nicht ganz sicher war, sonst hätte ich doch auf das abschwächende und auf Unsicherheit hindeutende »wohl« am Ende des Satzes verzichtet. »Sie spinnen!«, das wäre eindeutig gewesen, dafür wäre ein Klassenleitertadel vielleicht angebracht gewesen.

Aber mein harmloses »Sie spinnen wohl?!« war doch nichts weiter als eine in den Raum gestellte Diskussionsgrundlage. Frau Weidemann hätte mich durchaus aufklären können. »Nein«, hätte sie sagen können, »ich spinne nicht, ich bin schon von Geburt an so ein blödes Arschloch!« Und alles wäre klar gewesen. Aber so gabs einen Tadel und die Fronten verhärteten sich. Immerhin galt ich seit diesem Skandal als einer der härtesten Typen der Schule, als Brutalo-Typ, der vor nichts und niemandem Respekt hatte. Sogar der immer nach nassem Hund riechende Schulschläger Uwe aus der Zehnten, der mich zuvor in jeder zweiten Hofpause verkloppt hatte, behandelte mich nun mit seiner Art Respekt, er ignorierte mich von da an.

Einen Tadel bekam ich nicht mehr, nur etliche Verwarnungen, und als ich nach der achten Klasse nach Berlin ging, um dort mein Abitur zu machen, hatten sich die Probleme mit Frau Weidemann erledigt, dafür hatte ich es nun mit dem unglaublich dämlichen Jänicke zu tun, der in seiner Funktion als Klassenleiter alles versuchte, um mich von der Schule zu ekeln, aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Im Klassentreffen-Forum wurde munter weiter diskutiert, es gäbe Gerüchte, Frau Weidemann sei bei der Stasi gewesen, außerdem hätte sie nach meinem Weggang schlecht über mich geredet. »Die spinnt wohl!« schrieb ich ins Forum, fügte jedoch altersmilde hinzu, dass man Frau Weidemann gern einladen könne. Immerhin konnte ich ihr so Gelegenheit geben, sich bei mir für den Tadel zu entschuldigen. Und überhaupt für ihre ganze unangenehme Art.

Nun sitzt sie mir schräg gegenüber am reservierten Kneipentisch und tut so, als wäre nie etwas gewesen. Wahrscheinlich bedauert sie die ganze Zeit, dass sie mir keine Klassenleitertadel mehr aussprechen kann. Oder kann sie doch? Einen Moment bin ich unsicher. Die Unsicherheit geht über in Angst, als Frau Weidemann aufsteht und auf mich zukommt. »Der Robert«, sagt sie und strahlt mich an. Ich warte, ob noch was kommt, aber offenbar wartet sie darauf, dass ich mit der Konversation weitermache. Ihre Feststellung, dass ich »der Robert« sei, ist ja richtig, aber was soll ich darauf bitte antworten? »Die Frau Weidemann«, könnte ich ihren reduzierten Konversationsstil aufgreifen, aber dann, wie weiter? Zum Glück redet Frau Weidemann plötzlich weiter. Ich hätte ihr das Leben ganz schön schwer gemacht damals. Aber Schwamm drüber. Hä, die spinnt wohl? Umgekehrt wird ein Schuh draus. Doch ich kann nicht protestieren, sie redet schon wieder. Sie habe gehört, ich sei unter die Schriftsteller gegangen, und ob sie ein Buch haben könne, mit Widmung vielleicht?

Die ehemalige Klassenleiterin wirkt etwas pikiert, als ich 12 Euro 80 für das Buch von ihr verlange und knallhart bleibe, als sie mich mit einem Zehner abspeisen will, weil sie kein Kleingeld mehr habe. »Ich kann wechseln«, sage ich gut gelaunt, während sie mein Verhalten wahrscheinlich am liebsten mit einer Verwarnung im Hausaufgabenheft bestrafen möchte. Frau Weidemann hält das frisch erworbene Buch weit von sich, da sie weitsichtig ist, kann aber kaum was erkennen, weil sie ihre Lesebrille im Auto liegengelassen hat. »Na, nun schreib mir was Schönes rein« sagt sie und hält mir das Buch hin. Ich muss nicht lange überlegen. Dass sie ihre Lesebrille nicht dabei hat, ist ein Zeichen. »Für Frau Weidemann«, schreibe ich in Schönschrift, halte ihr das Buch hin und frage sicherheitshalber noch mal nach: »Und sie können wirklich nichts erkennen?«

Als sie verneint, zücke ich erneut den Stift. »Du spinnst ja total!«, schreibe ich sauber und deutlich und hoffe, dass sie nicht auf die Idee kommt, sich die Brille aus dem Auto zu holen, weil sie es nicht erwarten kann zu lesen, was der Robert ihr für eine schöne Widmung geschrieben hat.