Daniela Böhle: Karl ist wieder in Berlin, genauer gesagt in Kreuzberg

Er war für einige Jahre in Nordrhein-Westfalen und nun ist er zurück. Das ist für ihn ungefähr so wie an Weihnachten und Geburtstag und Silvester zusammen ein Sechser im Lotto.

»Lass uns in Kreuzberg treffen, ach Kreuzberg!« ruft er ins Telefon und ich bin nicht sicher, ob ich unsere Verabredung nicht um ein Jahr verschieben möchte, bis er sich wieder beruhigt hat. Bis sich viele andere Menschen mit ihm in Kreuzberg getroffen haben.

Karl ist in Berlin aufgewachsen, im Wedding, und er verhält sich Eins A wie ein Zugezogener, nur ohne schwäbischen Dialekt. Seit er mit 18 aus dem Wedding geflohen ist, ist Kreuzberg für ihn der einzig lohnende Bezirk in Berlin, ach was, auf der ganzen Welt.

»Im Atlantic«, ruft er noch, »lass uns im Atlantic treffen, Bergmann 100!«

Eigentlich geht Karl nicht in die Bergmannstraße, er ist ein alter Kreuzberg-36er, aber das kann und will ich nicht erreichen, also ist das sein Zugeständnis an mich und ich freue mich.

»Alles anders geworden«, murrt er, als wir uns treffen, »hier war es früher viel, viel …« es fehlen ihm die Worte, ich glaube, weil er sich einfach nicht erinnern kann. Wenn ich viele Jahre nicht an einem Ort war, den ich als herrlich in Erinnerung habe, dann bin ich auch enttäuscht, wenn bei meiner Rückkehr nicht mehr fünf Sorten Obst und dazu noch Brathähnchen an jedem Baum hängen.

Und in der Bergmannstraße gibt es einfach nicht mehr genug Hausbesetzer, Abbruchhäuser und Kommunen.

Ich vermisse das auch, aber ich vermisse es nicht so laut wie Karl. Bevor das Gespräch darauf kommen kann, wette ich mit mir selbst, dass er es schaffen wird, beim Thema Wohnung in einem Atemzug die Worte Balkon, Badewanne und abgezogene Dielen unterzubringen. »Ich hab eine tolle Wohnung gefunden«, sagt er, »in der Nähe der Ankerklause«. Dann kommt der Atemzug, in dem ich meine Wette gewinne. »Toll,« sage ich und grinse. Das Treffen beginnt mir Spaß zu machen.

Von hinten nuschelt es »Grummel grummel Straßenfeger grummel«, es ist ein freundliches Grummeln, aber ich will trotzdem keinen Straßenfeger kaufen. Karl schon. »Mein Freund!« schreit er fast und die Leute gucken. Ich lächle sie an und sie drehen sich schnell weg. Auch in Kreuzberg scheint man mit Verrückten nichts zu tun haben zu wollen, schade.

Karl kauft im Laufe des Abends auch noch zwei Glasfedern und vierzig Rosen und ich finde es zum ersten Mal nicht doof, diese vermutlich Verbrecher-Drückerkolonnen-armen-Schweine zu unterstützen. Er kauft einfach jedem Rosenverkäufer des Abends fünf Rosen ab, diese Wette mit mir verliere ich, ich wette nur auf vier Verkäufer, aber vermutlich hat der Erste eine Kerbe neben der Tür gemacht.

Karl grinst wie eine satte Katze hinter dem Rosenhaufen auf unserem Tisch. »Jetzt denken sicher alle, wir sind Touristen«, sagt er. »Sind wir aber gar nicht.« Seine Augen schwimmen plötzlich in Tränen und ich tätschle ihm unbeholfen die Hand, um meine Rührung wegzuwedeln, aber glücklicherweise hat wieder einer die Kerbe neben der Tür gesehen. »Kerzen kaufen?« raunt es neben meinem linken Ohr. Er schiebt eine Kerze über meine Schulter Richtung Karl. Er schiebt und schiebt, es ist eine bizarr lange und dicke weinrote Kerze, aber Karl ist begeistert. »Toll«, ruft er, »wie viele hast Du davon?«

Er duzt alle, den Straßenfegermann, den Glasfedermann, den Kerzenverkäufer, ich fühle mich wie in alten Zeiten, mir fällt erst jetzt auf, dass das eigentlich keiner mehr tut. Ich starre die Kerze an, die der Kerzenmann inzwischen auf meiner Schulter abgelegt hat, um mit der anderen in seinem Rucksack zu kramen. »Ich hab noch acht Stück«, sagt der Kerzenmann nach einigem Kramen, keine Ahnung, warum er für acht Kerzen so lang gebraucht hat, vielleicht ist er einfach zu bekifft, um schneller zu zählen, vielleicht muss er während des Zählens noch viele bedeutsame Gedanken zu Ende denken, »acht Stück«, wiederholt er andächtig, er ist wirklich bekifft.

»Ich nehm alle acht!« ruft Karl. Der Kerzenkiffer lächelt ihn lange an, so lange, dass ich denke, die ganze Sache ist so ein Märchending, der Kerzenkiffer ist in Wirklichkeit eine verzauberte Prinzessin, die denjenigen heiratet, der ihr irgendwann endlich eine Kerze abkauft, gleich werden acht Prinzessinnen vor Karl stehen, für jede Kerze eine. Statt dessen ist die verzauberte Kifferprinzessin endlich mit Lächeln fertig, sie zieht langsam eine Kerze nach der anderen aus dem Rucksack und nennt dann nach langem Nachdenken einen Phantasiepreis, den Karl ohne mit der Wimper zu zucken bezahlt.

Bevor wir uns voneinander verabschieden, erzählt mir Karl von dem alten Kerzenmann, den er kennen gelernt hat, als er damals vom Wedding ins gelobte Kreuzbergland gezogen war, der hat jeden Abend seine Kerzen angeboten und nie hat ihm jemand eine abgenommen, zuletzt ist er verrückt geworden, er hat dann nur noch ein verhunztes »Kerzenkaufen!« zur Tür reingerufen. Und das ist wohl sein Nachfolger. »Der soll es besser haben«, sagt Karl.

Ich bin froh, dass Karl zurück ist. Und viele andere sind es auch, da bin ich sicher.