Falko Hennig: Soviel Sofia

Ich wusste nicht viel über Georgi, eigentlich nur, dass er Dramatiker und Fernsehmann aus Sofia war und mein Jahrgang, 1969. Wir waren, obwohl wir uns noch nie in unserem Leben begegnet waren, durch ein Stipendium miteinander verbunden, das den schönen Namen Co-Piloten hatte. Ich würde meinen Aufenthalt in Sofia bezahlt bekommen und er später den seinen in Berlin. Wir würden uns jeweils unsere Stadt zeigen können, das klang nach Spaß.

Die Herkunft des Geldes für das Stipendium war etwas dubios. Es war von Kannibalismus in der Eisenbahn die Rede, von einigen Fällen Termitenentführung, Schleichwerbung auf Marsraketen, schließlich sogar noch von Geldverleih, teilweise sogar mit Zinsen, manche erwähnten auch Immobiliengeschäfte und Spekulationen. Aber viele Kollegen hatten schon von der Möglichkeit profitiert, in einer Stadt im Ostblock einige Wochen Ruhe vor Frauen, vor der Familie und vor den Strafbehörden zu finden.

Nun saß ich also im Flugzeug, blätterte in einem Reiseführer und las mit Erschrecken, dass in Bulgarien als einzigem Land der Europäischen Gemeinschaft auf Homosexualität noch immer die Todesstrafe stand, die von ausschließlich männlichen Henkern auf besonders abartige Weise vollstreckt wurde. Eigentlich hätte mich das nicht beunruhigen müssen, war ich doch seit mindestens fünf Jahren geheilt und nach allem, was ich gehört hatte, würde mir besonders in Bulgarien kein Rückfall drohen.

Allerdings hatte ich wegen einer Recherche fürs Deutschland-Radio Kultur eine größere Menge Schwulenpornos dabei. Ich las, was alles besser nicht eingeführt werden sollte, und außer allem, was den Verdacht der Homosexualität erregen könnte – wozu in Bulgarien auch Seife gehört –, waren da auch Drogen erwähnt. Mir wurde unbehaglich, hatte ich doch aus genau denselben Recherchegründen ein Kilo Marihuana dabei. Ich war mir sicher gewesen, dass niemand auf die Idee käme, jemand könne versuchen, in ein Land wie Bulgarien Marihuana hineinzuschmuggeln.

So war ich schweißgebadet, aber doch sehr erleichtert, als ich mit meinem Rucksack voller Marihuana und Schwulenpornos nach den Kontrollen endlich in die Flughafenhalle trat. Georgi stand da, etwas überrascht wirkte er, als ich ihm erzählte, dass ich noch keine Rubel eingetauscht hatte: »Rubel? Warum Rubel?«

»Habt Ihr denn hier schon Euro?«

»Nein, hier haben wir seit der Gründung Bulgariens Lewa.«

»Dann ist es ja ganz gut, dass ich mir noch keine Rubel eingetauscht habe.«

Er fragte, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm zum Synchronschwimmen zu kommen, das müsse er sich für das bulgarische Fernsehen angucken. Da ich großes Interesse hatte, von der bulgarischen Kultur möglichst viel mitzubekommen, sagte ich zu.

Wir mussten direkt los, ich sollte meine Sachen einfach mitnehmen, die würden nicht stören. Wir fuhren mit einem Taxi an den Rand von Sofia zu einer Seilbahn-Station. »Fahren wir da jetzt hoch?«, fragte ich.

»Ja, die Schwimmhalle ist auf dem Gipfel.«

Wir saßen in der eiskalten Kabine, es ging höher und höher und bald schwebten wir über verschneiten Wäldern.

»Warum ist die Schwimmhalle hier oben?«, wollte ich wissen, doch da klingelte sein Handy. Er redete auf Bulgarisch, von dem ich so gut wie nichts verstand, eine halbe Stunde, immer aufgebrachter. Zum Schluss schrie er in das Funktelefon, warf es auf den Kabinenboden und zertrampelte es.

»Kleine Programmänderung!« erklärte er mir, »wir müssen zur Polizeiaffenfütterung. Aber das ist ganz in der Nähe.«

Auf dem Gipfel angekommen, stapften wir eine halbe Stunde durch den Schneesturm. Schließlich sahen wir die Konturen eines wenig Vertrauen erweckenden Gebäudes, hielten darauf zu und traten ein.

Ich muss die weiteren Ereignisse etwas abkürzen, um den Rahmen nicht zu sprengen. Ich kann sagen, dass ich weder an diesem ersten Tag in Bulgarien noch an irgendeinem anderen in den folgenden zwei Monaten jemals Langeweile verspürt hätte. Mir war nicht bekannt, dass die bulgarischen Polizeiaffen eine wichtige, bisher verheimlichte Rolle bei den libyschen Vorwürfen gegen die Aids-Krankenschwestern und ihrer wunderbaren Befreiung gespielt hatten. Auch war mir nicht bekannt, wie ideal sich gerade dressierte Affen zum Aufspüren verbotener Drogen und Pornos eignen. Nur durch Georgis blitzschnelle Reaktion wurde ich vor ziemlich gewaltigen Schwierigkeiten bewahrt.

Georgi war in fast jeder meiner bulgarischen Minuten für eine Überraschung gut. So rief er gleich am nächsten Morgen, viertel vor drei an, fragte, ob ich Lust hätte, ein Gespräch mit dem letzten Henker des Vatikan zu führen. Wir fuhren mit der Straßenbahn in einen Vorort und hätte ich nicht um den exotischen Beruf unseres Gesprächspartners gewusst, ich hätte ihn nach Kleidung und Wohnungseinrichtung für einen Sportlehrer gehalten.

Am selben Tag ging es auch noch darum, die Top-Mitglieder der Mafia zu interviewen. Georgi zerstreute meine Befürchtungen: »Keine Angst, die erschießen nur ihre eigenen Leute, also welche von ihnen, die sie verraten, keine Journalisten...«

»Aber ich bin doch auch gar kein richtiger Journalist.«

Georgi wies plötzlich aus dem Fenster: »Da haben sie den Verteidigungsminister erschossen...«

An der nächsten Haltestelle zeigte er auf die gegenüberliegende Straßenseite, »…und da wurde der Finanzminister abgestochen, vor zwei Wochen, er konnte sich noch fast bis ins Zentrum schleppen, bevor er verblutete. Wie eine Sau!«

Den weiteren Weg über wiederholte er das oft und eindrücklich: »Wie eine abgestochene Sau!«

Es war abends, als er mir im Zentrum die Sehenswürdigkeiten vorführte: »In der Disko dort oben haben sie letzte Woche den Postminister erschlagen, einfach so, mit einem Feuerlöscher.«

So machte er mich mit Sitten und Lebensart des sympathischen Balkan-Volkes vertraut, das durch die Erfahrungen seiner Geschichte immer bereit ist, zu improvisieren, und lange Planungen nicht liebt.

Er feiere Geburtstag mit Freunden, ob ich mitkommen wolle? Natürlich wollte ich. Dass die Straßenbahn streikte, erfuhr ich, als ich am vereinbarten Treffpunkt auf ihn wartete. Ob wir uns nicht stattdessen im Keller der Kirche treffen wollten? Nun ja, ich verstand den Zusammenhang nicht, das musste ich vielleicht auch nicht, letztlich konnte es mir egal sein und ich stimmte zu.

Ich stimmte noch oft zu und verbrachte viele Stunden an Orten, die ich sonst nie hätte kennenlernen können. Dort hatte ich oft viel Zeit und Muße zum Schreiben und das ist für einen Autor ja immer sehr willkommen. Aber warum ich nun da oder dort und nicht in einem Café oder einer Bar zu warten hatte, das erschloss sich mir nicht. Doch wo immer ich auch wartete, mit Sicherheit bekam ich bald einen Anruf von Georgi.

Wie es ihm gehe? – Nicht so gut, ein Flugzeugunglück, er habe ein Bein verloren. Als ich ihn eine halbe Stunde später im Militärkrankenhaus traf, hatte er nur eine Beule an der Stirn. Seine Beine wirkten ganz normal.

»Was ist mit deinem Bein?«

»Schon besser, aber willst du nicht eine Lesung in Sofia machen?« 

»Warum nicht?«

»Okay, ich organisiere das alles.«

Georgi weckte mich halb vier morgens, eine Zeit, in der ich die Gespräche mit ihm am intensivsten empfand, weil er dann gelassen und gleichzeitig konzentriert wirkte. Er müsse dringend zum Augenarzt, ein Auge würde entfernt werden müssen.

»Um Gottes Willen, Georgi…?«

Nein, das sei nicht schlimm, die bulgarische Kunst der Glasaugenbemalung sei international sehr unterschätzt. Ob mir überhaupt schon aufgefallen sei, dass fast alle Bulgaren Glasaugen trügen? Das hätten sie schon in der Antike erfunden, Glas sei ein geradezu geniales Material für künstliche Augen, viel besser als Porzellan, denn durch das Glas könne man hindurch kucken.

»Wir können ein Schwein schlachten!«, fügte er unvermittelt hinzu.

»Ein Schwein schlachten?«

»Ja! Dann sagst du, du hättest das Rezept für die Sülze von deiner Oma. Nein, besser noch, dass deine Oma das Rezept von Goethe hat.«

»Georgi, ich verstehe den Zusammenhang gerade nicht.«

»Für die Lesung, wir müssen den Leuten hier etwas bieten, und wenn Deutsche Schweine schlachten, dann gibt das immer was her.«