Spider: Die Rebellion von Oben

Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen unten und oben. Diese früher in linken Kreisen oft gedroschene Phrase klingt irgendwie altmodisch, aber wie wahr sie doch ist, begriffen viele von uns erst, als die da oben zurückschlugen. Irgendwann musste es ja mal so kommen. Nichts hatte das Großbürgertum, die besitzende Klasse, die Kapitalisten erschüttern können. Nicht die reale Existenz der DDR, nicht die APO und nicht die RAF. Aber die Finanzkrise Ende des 1. Jahrzehnts des 3. Jahrtausends. Um genau zu sein war es das Verhalten der Öffentlichkeit in dieser Angelegenheit. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Diese ständige Kritik, und diese dann meist noch nicht mal konstruktiv, dieses ewige Genörgel, die immer lauter werdenden Forderungen nach staatlicher Kontrolle und persönlicher Haftung, das feindselige Klima, das Managern und Anteilseignern entgegenschlug – irgendwann war es einfach zu viel. Was sich da an Unzufriedenheit, ja an Hass zusammenbraute, man hätte es wissen können. Es stand ja alles in den Leserbriefen, Zuschriften wütender Bourgeois an die Meinungsseiten der Financial Times oder der Managers Health.

Mit uns können sie es ja machen, die da unten, die machen doch sowieso mit uns, was sie wollen, alle hacken sie auf uns rum, wir sind ja der Fußabtreter der Nation, aber irgendwann ist mal Schluss, die sollen sich mal nicht einbilden, dass wir uns alles gefallen lassen, neinnein, die werden sich noch umgucken, wir können nämlich auch anders, die werden schon sehen.

So begann der Aufstand von oben. Bald gab es die ersten Dienstagsdemonstrationen. Zuerst in Frankfurt am Main, dann in allen größeren Städten Deutschlands. Auf dem Alexanderplatz hörte ich neulich zufällig die flammende Rede eines Managers: »Wenn diese oberschlauen Damen und Herren aus dem Volk meinen, 20 Millionen im Jahr sind genug, dann sollen die doch selber den Job machen, für das Geld.« Tosender Applaus. »Tosender Applaus«, blinkte ein Schriftzug auf der Leuchtanzeige, die über dem Rednerpult angebracht war. Aber die rund zweihundert Anzugträger an der Weltzeituhr klatschten nur halbherzig. Es waren nämlich gar keine Spitzenkräfte des Finanzwesens. Die echten Banker hatten an dem Tag nicht selbst hingehen können, da zeitgleich in Bahrain eine Luxusmesse stattfand. Also hatten sie Claqueure eingestellt, größtenteils Wirtschaftsjournalisten, die sich ein Zubrot verdienten. Die eindrucksvolle Rede war von einer Putzfrau der Deutschen Bank gehalten worden, die selber kein Wort davon verstanden hatte. Sie hatte vom Blatt abgelesen und konnte eigentlich nur Polnisch, sowie Englisch, Französisch, Russisch, Latein, Altgriechisch und – ein Hobby aus Studententagen – Khmer. Sie hatte als Beste ihres Jahrgangs ihr Studium in Warschau abgeschlossen, aber da sie es versäumt hatte, Deutsch zu lernen, fehlten ihr die Aufstiegschancen in der Hauptstadt der Berliner Republik.

An Dienstagen jedoch, an denen keine Luxus-, Boots-, oder Eigenheimmessen stattfanden und die Herren und ein paar Damen in Nadelstreifen selbst demonstrieren konnten, waren die Demonstrationen natürlich viel eindrucksvoller. Diese Leidenschaft! Dieser Zorn! Oft kam es zu Sitzblockaden der umliegenden Parkbänke und zu spontanen Hungerstreiks zwischen 17 und 18 Uhr. Die Polizei überließ den marodierenden Schlipsträgern bereitwillig den Alexanderplatz, denn so wurde er unattraktiv für die früher dort herumstromernden jugendlichen Emos und ihre Alkopops.

Während die einen noch friedlich protestierten, diskutierten andere schon den bewaffneten Kampf. Diese Option wurde zum Glück von den meisten verworfen, aber eine kleine radikale Gruppierung, geführt von einen Milliardär aus einem alten europäischen Industriellengeschlecht, entschied sich für den Weg in den Untergrund. Erbarmungslos attackierten sie Vertreter der gegnerischen Klasse, Galionsfiguren der Unterschicht, Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller.

Am 4. August 2009 lockten mehrere in feines Zwirn gewandete Männer Heinz Schlibrowski, der sich auf dem Weg vom Jobcenter Tempelhof-Schöneberg, wo ihm gerade die Bezüge gekürzt worden waren, nach Hause befand, unter Verwendung einer Flasche Dujardin auf das Gelände des stillgelegten Flughafens Tempelhof und verschleppten ihn in einem schwarzen Learjet mit gefälschtem Nummernschild auf ein luxuriöses Anwesen in der Toskana. Am nächsten Tag prangte Schlibrowskis Bild auf allen Titelseiten. Das Foto zeigte ihn halbnackt auf einer Massageliege vor einem geschmackvollen Kamin unter den Fingern einer lächelnden Masseurin. In der einen Hand einen Lambrusco, in der anderen den aktuellen Playboy. Schlibrowski war zum ersten Gefangenen der Reichen Armee Fraktion geworden.

Das Jobcenter Tempelhof-Schöneberg lehnte die Zahlung von 100 Millionen Euro Lösegeld in gebrauchten 20-Cent-Münzen kategorisch ab. Diese Entscheidung, so erklärte Schlibrowskis Fallmanager später, sei ihm nicht leicht gefallen, zumal ihn Schlibrowski in einem Erpresser-Video angefleht habe, nichts zu unternehmen, um ihn da rauszuholen. Beim Dreh für ein weiteres Video, für das man Wim Wenders hatte gewinnen können, betrank Schlibrowski sich aus der Minibar seines Zimmers und hopste in echtes Leopardenfell gewickelt um einen Swimming-Pool und die dort sonnenbadenden Supermodels herum, was irgendwie überhaupt nicht authentisch die Forderungen der Reichen Armee Fraktion rüber brachte.

Aber was sollten sie tun, es gab auf dem Anwesen des militanten Industriellen einfach keinen Raum ohne Bar, Kamin oder Flachbildfernseher. Sie sperrten ihre Geisel in den Humidor, was sich als fataler Fehler erwies, ebenso die Verbannung in den Weinkeller, in die Sauna, den Pudelzwinger. Sie senkten ihre Forderungen erst auf 90 Millionen Euro, ein paar Stunden später auf 90 Euro, zur Not auch zahlbar in Kaisers-Treueherzen. Das Jobcenter Tempelhof-Schöneberg blieb hart. Schließlich erlöste Schlibrowskis Frau Roswitha ihn gegen Zahlung einer symbolischen D-Mark, obwohl die gar nicht mehr gültig war, aus der Gefangenschaft, was er ihr bis heute nicht verziehen hat. Rückblickend spricht er von diesen vier Tagen im August als der schönsten Zeit seines Lebens.

Es gab weitere solcher Entführungsfälle, alle verliefen nach dem gleichen Muster. Nach nicht mal einem Jahr löste sich die Reiche Armee Fraktion auf. Aber die kurze Zeit ihres Bestehens hatte genügt, den Aufstand von oben völlig zu diskreditieren. Die Radikalen hatten ihrer Klasse einen Bärendienst erwiesen. Die Sympathien der Öffentlichkeit schwanden. Die Dienstagsdemonstrationen kamen zum Erliegen. Der Kampf des Großbürgertums beschränkte sich wieder auf die Mittel, derer er sich schon vorher hatte bedienen müssen: Bestechung, Einflussnahme, Parteispenden. Die Demokratie war gerettet. 2010 gab es eine neue Fußballweltmeisterschaft. Und sogar wir kleinen Leute, wir, deren Idol einen kurzen Sommer lang Heinz Schlibrowski gewesen war, sogar wir vergaßen, dass die Grenze zwischen unten und oben verlief und nicht zwischen den Völkern.