Uli Hannemann: Postillion D‘Amour

Ein einfältiger Mensch hätte die Mail für Spam gehalten. Absender war eine Sandra und die Betreffzeile lautete: »Hast du heute was vor?« Ich stutzte. Eine Sandra kannte ich nicht. Doch genau deshalb schrieb sie mir ja: Eben weil ich sie noch nicht kannte, wollte sie mich kennen lernen. Das Leben kann so einfach sein, wenn man logisch zu denken in der Lage ist. Wäre das Spam gewesen, hätte sie kaum ihren Namen in den Absender geschrieben. Für solche Dinge besitze ich ein untrügliches Gespür.

Ich öffnete die Mail und las: »Hi Süßer, hier ist Michaela von der Disco. Du hattest mir deine Mailadresse gegeben und fande dich sehr süss. Hast du heute lust ins Kino zu gehen? Ich rufe meine eMails leider nicht so oft ab - ich würde dich bitten das du mir hierüber schreibst. [und dann kam so ein komischer Link…] Freu mich auf dich. Bis bald. Dein böses Mädchen Michaela.«

Michaela also. Offenbar hatte sie selbst kein Internet und mir vom Rechner ihrer Freundin Sandra aus geschrieben. Ich kannte nicht nur keine Sandra, ich kannte auch keine Michaela, und in Discos ging ich schon gar nicht. Aber dass sie mich süß fand, erschien mir nachvollziehbar, obwohl ich mich an nichts erinnern konnte, folglich auch nicht daran, jemandem meine Mailadresse gegeben zu haben. Womöglich meinte sie mit Disco ja eher eine Kneipe oder irgendeinen anderen Ort, an dem ich irgendwann mal war. Zu den Dingen, die mir an Frauen wichtig sind, gehört als letztes ein perfekter Orientierungssinn. Ohnehin sind es stets genau diese geheimnisvollen Widersprüche, die mich mit aller Macht anziehen. Der Umweg ist die Hauptstraße der Liebe - ich glaube, in diesem Moment war ich bereits ein kleines bisschen verknallt.

Mein böses Mädchen Michaela. Ich stellte mir eine junge Frau vor, die grölend durch die Straßen lief, Hunde trat, Fahrräder aufschlitzte und Kindern auf den Kopf spuckte. Dabei sah sie großartig aus: Lange braune Wuschelhaare, frech blitzende blaue Augen, ein Röckchen mit so Blumen drauf und schwere Stiefel mit Stahlkappen. Ihre Freundin Sandra war sicher auch sehr nett, aber nicht so phantastisch wie Michaela.

Für Kino wäre es heute leider zu spät. Sie rief ja auch ihre Mails nicht so oft ab, verständlich: Es war ihr bestimmt unangenehm, ständig bei Sandra rumzuhängen, wie sehr diese auch betonte, dass es ihr absolut nichts ausmache; ja, dass sie, Sandra, es als viel wichtiger erachte, dass sie, Michaela, ihr Glück fände mit diesem süßen Typen da, der ihr sogar seine Mailadresse gegeben habe in jener Disco, die keine war. Daraufhin umarmten sich die Freundinnen und streichelten einander ein wenig über den Rücken, so von oben nach unten, denn Sandra saß im Rollstuhl und war auch deswegen froh, wenn Michaela ab und zu bei ihr vorbeischaute, und sei es auch nur wegen ihres Internetanschlusses. Sandra war nicht so naiv, sich da allzu viel vorzumachen. Fauchend strich ein zahmes Frettchen den Gefährtinnen um Rad und Bein und erbrach etwas Trockenfutter.

Michaela! Der Name einer neuen Frau gewinnt in der ersten rauschhaften Zeit der Verliebtheit immer so einen eigenartigen Zauber, dass man ihn geradezu zwanghaft wieder und wieder auf der Zunge zergehen lassen muss: Michaela, Michaela, Michaela. Wie gewünscht, klickte ich den Link an. Ich war mittlerweile so entflammt, dass mir alles egal war. Mich reizte sogar die Gefahr, mir bereits in diesem frühen Stadium unserer Liebe einen gefährlichen Virus einzufangen. Ja, ich hatte was vor!

Der Link funktionierte nicht. Na gut, dann antwortete ich eben an Sandras Adresse. Ich fügte der Betreffzeile ein "für Michaela" hinzu, nahm aber insgeheim durchaus in Kauf, dass Sandra mitlas. Sollte sie doch. Ihr Leben wies so wenig Abwechslung auf seit jenem Badeunfall im Sommer am Templiner See.

Lange dachte ich nach, um die richtigen Worte zu finden – jetzt bloß nichts falsch machen! »Liebe Michaela«, begann ich schließlich, »ich kann mich noch sehr gut an den Abend in der Disco erinnern.« Eine kleine Notlüge sollte schon erlaubt sein, wenn es darum ging, zwei Herzen mit dem goldenen Strick der Zuneigung für immer zu verbinden. Dann schrieb ich von mir. Ich war sehr ehrlich. All meine Ängste und Sehnsüchte packte ich blank auf den Tisch. Ich malte ihr Bilder aus Worten vom gemeinsamen Laubrascheln im Herbst, von neckischen Schneeballschlachten im Winter, und davon, wie ich ihr sommers unter leise rauschenden Bäumen am Templiner See die zarte Haut eincremte. Im Schatten spielte das Frettchen mit den Schnürsenkeln der Springerstiefel, daneben wir beide mit zwei Flaschen Sternburg und nackt wie Gott uns schuf. »Alles wird schön sein«, schloss ich acht Seiten später, »unser Häuschen wird auch Platz für eine ebenerdige Einliegerwohnung für Sandra haben. Ich freue mich auch!«

Die Mail bouncte. Auf den ersten Blick merkwürdig, wie schon die Sache mit dem Link. Doch nur auf den ersten, auf den zweiten musste ich mir eingestehen: Was für ein raffiniertes, erotisches Lockspiel! Sie wollte es mir nicht gar so leicht machen. Michaela mochte ein böses Mädchen sein, aber sie war weiß Gott keine Schlampe. Hasch mich, wenn du kannst; dieser süße Reigen des Näherkommens und sich wieder Entziehens; Zuckerbrot und Peitsche. Vor meinem geistigen Auge sah ich zwei gaukelnde Schmetterlinge im Lupinenhain, zwei Formel-1-Boliden, die sich in der Schikane neckten, zwei Scharfschützen in den Trümmern von Stalingrad: »Enemy at the Gate«.

Ich hatte meinen Teil versucht – nun blieb mir nichts weiter, als zu warten. Sie würde sich wieder melden, später, eines Tages, da war ich mir sicher. Das alles gehörte nun mal zu dem Spiel. Ach, Michaela …