Bettina Andrae: Strafbestand – Nötigung

Ich hätte gern«, setzte ich an, musste aber innehalten, um einen Blick auf das Namensschild des Brotes zu werfen. Wie hiess das? Ich blinzelte. »Wat will se denn nu?« raunzte mich die pockennarbige Madame hinter der Backtheke an. Unter dem gut aussehenden Schwarzbrot pappte ein Schild: ›Vollkornbatzen‹. Ich schluckte.

»Ähhm...«.

»Ähhm hamwa nich, wenn Se sich vielleicht ’n bisschen jenauer ausdrücken kann?!«

»Ähhm, ich hätte gern dieses Schwarzbrot dort zur Linken hinter Ihnen.«

»Hamwa nich«, erwiderte die Pockennarbige lakonisch, ohne einen Blick hinter sich zu werfen. Sie blitzte kampfeslustig mit den Augen. »Aber dort liegt es doch«, ich deutete mit dem Zeigefinger meiner Rechten auf das Brot.

Unterdessen hatte sich eine munter murrende Schlange hinter mir gebildet. »Ach, die Bauernkruste meint Se?« Sie lächelte herausfordernd. »Nein. Daneben.«

»Wie – daneben?! Se is hier nich beim Lotto..«, wurde sie künstlich ungehalten, »Kann Se dit Kind mal beim Namen nennen, vielleicht?!«

Konnte ich nicht. Und das wusste sie mit Sicherheit so gut wie ich. Ich bin tatsächlich kein schüchterner Mensch und habe selten Hemmungen die Dinge beim Namen zu nennen. Derbste Schmähungen verlassen meine Lippen, Froschfotzenleder zum Beispiel, wenn es angebracht ist. Doch das hier ging zu weit. Wenig demütigt mich mehr als Dinge sagen zu müssen, die ich nicht sagen will. Tourette-Syndrom? Ich nicht. Madame lebte hier anscheinend sadistische Gelüste hinter ihrer Theke aus; und niemand band ihr die Hände, mit denen sie ›Vollkornbatzen‹ und ›Bauernkruste‹ auf die Namensschilder unschuldiger Backwaren wichste. Vermutlich kam sie jedes einzelne mal, wenn Kunden eine ihrer Schöpfungen, nach langem Winden klein bei gebend, mit ersticktem Stolz aussprachen. Nicht mit mir!

Ich holte Luft. Dann sprach ich: »Ich würde gern dieses quadratische dunkle Brot mit den vereinzelten Sonnenblumenkernen obenauf, wovon noch genau eins zwischen den acht langen, hellen Broten und (ich zählte kurz durch) den fünf dunklen, runden liegt, kaufen.« Damit hatte ich meinen Wunsch eineindeutig formuliert; es konnte kein Zweifel bleiben.

Zwischen ungeduldigem Grummeln hinter mir konnte ich vereinzelt erst, dann vehement und im Chor zustimmend aufmunternde Worte heraushören. »Jut so! Jibs Sie!« etwa. Oder »Nicht schlecht, dit war clever!« Madame de Sade wurde unruhig, ihre Pupillen begannen hektisch zu flackern. Dann endlich griff sie hinter sich, schmiss mir das ersehnte Brot auf den Tresen und zischte: »Einfuffzich! Will Se nochwat?«

»Nein«, bedankte ich mich, zahlte und steuerte gemessenen Schritts zum Ausgang. Dabei lösten sich einige Wartende aus der Schlange und folgten mir. Draussen traten sechs Menschen zu mir und sprachen mit leisen eindringlichen Worten zu mir. Sie planten seit geraumer Zeit eine Sache bezüglich Pocki. So nannten sie die Frau vom Backwarenstand. Sie hätten recherchiert und wüssten, dass sie ein bestimmtes Narbentherapeutikum benutze, das sie sich allwöchentlich in der Apotheke dort drüben beschaffte. Und sie nun hätten durch glückliche Umstände, die zu erläutern hier den Zeitrahmen sprengen würde, den pharmazeutischen Betrieb, der das Präparat unter Alleinlizenz herstelle, kürzlich aufgekauft. So die Worte der sechs. Es gäbe das nicht rezeptpflichtige Präparat in jeder Apotheke; seit Tagen säßen sie angestrengt über einer neuen Namensgebung dafür. Aus sechs Augenpaaren zwinkerte man mir freundlich zu, ob mir vielleicht etwas geeignetes einfiele, wurde ich höflich befragt.

Ich nahm die sechs mit zu mir nachhause; zu Schwarzbrot und Kaffee. Es war ein schönes Beisammensein. Wir saßen um meinen Küchentisch und fertigten eine Liste an. Die sechs waren durchweg sympathische Menschen, phantasievoll zudem. Ich zähle sie seither zu meinen Freunden.

An jenem Tag noch einigten wir uns auf einen Preis von 89 Euro je Wochenrations-Tube des Narbentherapeutikums mit dem neuen Namen ›Scarface 200‹. Schon nächste Woche geht es in Serie.