Robert Naumann: Alternative Medizin

Sitze mit Tochter Marie wegen ihrer Zahnlücke im Wartezimmer einer kieferchirurgischen Praxis und lese einen etwa zwanzigseitigen Stapel Papiere durch, in dem mir unmissverständlich klargemacht wird, dass die von der gesetzlichen Krankenkasse abgedeckte Zahnspange für Marie nur eine absolut minderwertige Krüppelzahnspange werden kann, hergestellt von blinden Kindern in Indien aus gebrauchten, zunächst eingeschmolzenen und dann wiederverwerteten Zahnspangen. Denn superelastische Drahtbögen mit hohem Rückstellungsvermögen, reibungsarmes Multibandsystem, Keramikbrackets und instrumentelle Funktionsdiagnostik werden zwar von der Praxis unbedingt empfohlen, sind aber nicht im Leistungskatalog gesetzlicher Krankenkassen enthalten. Ohne diese optimierten Methoden drohe eine langwierige, schmerzhafte Behandlung. Die, wie ich gerade entdecke, doch nicht ganz, sondern nur zu 80 Prozent von der Krankenkasse übernommen würde. Einen kurzen Moment spiele ich mit dem Gedanken, aufzuspringen, brüllend durch die Praxis zu rennen und in einem Akt barbarischer Gewalt sämtliche Praxismitarbeiter mit ihren eigenen zahntechnischen Instrumenten zu töten. Aber die können ja nichts dafür. Und an die Krankenkassenbosse kommt man einfach nicht ran.

Überhaupt, so fällt mir gerade auf, finde ich Zahnlücken gar nicht unattraktiv. Vielleicht ist es Zufall, aber sowohl meine Jugendliebe Vanessa Paradis als auch die von mir seit meiner Kindheit verehrte Ornella Muti haben beide eine ordentliche Lücke zwischen ihren Vorderzähnen. Und mein musikalisches Idol Shane MacGowan, auch der Mann mit dem Friedhof im Mund genannt, hat bewiesen, dass man selbst mit sehr wenigen Zähnen und ganz vielen Lücken gute Musik machen kann. Über seine Attraktivität hätte man freilich streiten können.

Aber ich muss zugeben, dass der Begriff ›Zahnlücke‹ für den Leerraum zwischen den Vorderzähnen von Marie in ihrem Fall eindeutig ein Euphemismus ist. ›Große Kluft, welche ein Zeigefinger nicht überbrücken kann‹ wäre wohl die treffendere Bezeichnung.

Selbst wenn Karius und Baktus nebeneinander laufen und dabei Sombreros mit extrem ausladenden Krempen auf ihren Köpfen tragen würden, könnten sie bequem und ohne anzustoßen zwischen den beiden Schneidezähnen meiner Tochter durchspazieren.

Es hilft nichts. Da ich nicht privat versichert bin, wird Marie wohl leiden müssen. Und ich muss die zwanzig Prozent übernehmen, welche die Krankenkasse nicht zahlt. Was wohl so eine olle Zahnspange kosten wird? Hoffentlich nicht mehr als fünf Euro, das wäre ein Euro Zuzahlung, damit könnte ich leben.

Aber wenn die Kassenzahnspangen erst von Indien hierher transportiert werden müssen, wird wohl allein schon das Transportgeld den Preis mächtig nach oben schrauben. Vielleicht sollte ich mich doch eher auf zehn Euro einstellen, nicht dass ich nachher aus allen Wolken falle.

So, ein letztes Blatt zum Durchlesen. Wie bitte? Die Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung sind einzelfallabhängig und betragen in der Regel zwischen 2000 und 4000 Euro? Erneut verspüre ich das dringende Bedürfnis, mordend und plündernd durch die Praxis zu toben und diesmal auch die Patienten im Warteraum nicht zu verschonen, einfach weil sie das Pech haben, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

Wie durch ein Wunder gelingt es mir mittels meiner bewährten Hechelatemtechnik, mich wieder einigermaßen zu beruhigen. Trotzdem bin ich noch immer fassungslos. Kann das sein, dass die Krankenkassen auch noch aus der Tatsache Profit schlagen, dass sie die Kassenspangen von armen blinden indischen Kindern herstellen lassen?

Zumindest brauchen die indischen Kinder sich keine Sorgen zu machen, dass sie sich keine Zahnspange leisten können. Die brauchen sie nämlich nicht. Wenn in Indien ein Kind schiefe Zähne hat, wird es mit einem Hund verheiratet, hab ich neulich in der Zeitung gelesen. Um die bösen Geister zu vertreiben. Ich habe zwar den Zusammenhang zwischen schiefen Zähnen, bösen Geistern und Hunden nicht ganz kapiert, aber die Inder werden schon wissen, was sie tun. Und sicher funktioniert das auch mit Überbiss oder Zahnlücken.

Langsam reichts mir. Jetzt sitzen wir schon fast eine Stunde hier und warten darauf, dass die gar nicht unattraktive Zahnlücke meiner Tochter mittels eines Metallbügels auf schmerzhafte Weise über Jahre zusammengequetscht werden wird, und dafür soll ich im ungünstigsten Fall auch noch 800 Euro bezahlen? Das ist doch absurd!

»Marie«, sage ich, »steh auf, wir gehen!«

In wenigen Sekunden ist ein Entschluss in mir gereift und je länger ich darüber nachdenke, um so mehr gefällt mir die Idee.

Was denn los sei, fragt Marie verwirrt. Sie habe doch ihre Zahnspange noch gar nicht und mit der doofen Zahnlücke würde Sebastian aus der 6b sie total hässlich finden.

»Ach Sebastian, der ist doch doof«, versuche ich sie etwas ungeschickt zu beruhigen.

Illustration: Elke Pollack

»Aber sag mal«, spiele ich dann meinen Trumpf aus, »hast Du Dir nicht schon immer ein Haustier gewünscht? Was hältst Du denn von einem Schäferhund? Oder wäre Dir ein Dackel lieber?«

Sie will einen Pudel. Dass sie ihn heiraten muss, das erklär ich ihr später.