Lillebjörn: Malakhov

Zum ersten Mal so richtig verliebt war Töchterchen mit neun. Der Vorname des Angebeteten ist Vladimir, also ist er Russe, der Nachname ist Malakhov, also ist er ein weltberühmter Balletttänzer. Töchterchen geht nicht nur fleißig in die Staatsoper, wo der Star zu bewundern ist, nein, sie lässt sich eine Autogrammkarte schicken, darf beim Training zugucken, schneidet Zeitungsartikel und Fotos aus und klebt sie in ihr Malakhov-Album. Da der Verehrte nicht gepierct ist und überhaupt ganz sympathisch, möchte der Vater auch was zum Malakhov-Album beitragen und denkt sich eine passende Geschichte aus.

Im pädagogisch wertvollen nonfiktionalen Teil geht es um Otto Lilienthal, dessen besondere Beziehung zu Malakhov selbst Fachleuten bisher unbekannt ist, aber wir werden sehen. Ich schreibe Töchterchen also auf, wie Lilienthal 1893 aus Weidenstangen und hellbeigem Baumwollstoff den ersten Hängegleiter baut und damit 10 bis 15 Meter weit springt, oder fliegt, das kann man noch nicht so recht unterscheiden. Drei Jahre danach schon der letzte, der tödliche Flug im Südwesten von Berlin. Was vom Hängegleiter übrig ist, landet in Kisten und wird vergessen – fast vergessen.

Den Rest meines Eintrags in Töchterchens Malakhov-Album – nur zwei Absätze noch – zitiere ich hier wörtlich:

Zeitsprung, gut 90 Jahre später, zwischen all den Ostberlinern zwängen sich auch zwei Russen durch die frisch geöffnete Mauer. Der eine ist ein schmächtiger, blasser Jüngling nicht ohne Pickel, der kein Deutsch spricht, der andere ein russischer Privatdetektiv. Ihr Ziel ist eine Kleingartenkolonie in Lichterfelde, wo sie von einer Grauhaarigen in Kittelschürze, eine geborene Lilienthal, erwartet werden, die ihr Misstrauen zurückstellt, als der Detektiv sein Bargeld zeigt. Ja, sagt sie, der Stoff des Großvaters sei noch da, das Holz aber längst verfeuert. Sie öffnet eine Kiste im Schuppen. Der Jüngere sagt auf Russisch, dass er jeden Preis zahlen wolle. Der Privatdetektiv sagt auf Deutsch, der Plunder sei in einem entsetzlichen Zustand, aber die Armee seines Landes sei knapp dran mit Zelten. Für 80 Mark würde er das Zeug mitnehmen. Man einigt sich auf 100, von denen der Detektiv 1000 auf die Spesenrechnung setzt. Die beiden Russen setzen die Reise fort, es geht zur besten Pariser Ballettschneiderin.

Die magische Wirkung des Lilienthal-Stoffes bleibt nicht aus, die Pickel verschwinden, und der junge Tänzer verblüfft die Welt mit seinen Flügen, die niemand, der sie gesehen hat, als Sprünge bezeichnen würde. Kein Wunder, nur mit Baumwolle und ohne das Holz ist Malakhov in seiner Strumpfhose ja auch leichter als Lilienthal mit seinem Flieger. Vielleicht fliegt er nicht ganz so weit, aber er bleibt entschieden länger in der Luft. Neulich sagtest Du, es seien mindestens zwei Minuten gewesen, ich weiß, ich weiß, und der von Dir Verehrte drehte sich dabei und lächelte Dir zu.

Das war im Großen und Ganzen die Geschichte, und die soll noch mit einem möglichst neuen Foto des fliegenden Malakhov dekoriert werden, mal schnell im Internet gucken - ach nee, was steht denn da, hör mal, Töchterchen: »Der schwule Balletttänzer Vladimir Malakhov…« Töchterchen geht in Berlin zur Schule und weiß daher, was ›schwul‹ bedeutet. »Naja«, sagt sie, »dann kriegt ihn wenigstens keine andere.«