Uli Hannemann: Szenen eines Lebens

5 Jahre

Ich besitze drei Kuscheltiere: Minki, Stoffel und Bär.

Bär ist ein abgewetzter gelber Teddy. Er strömt eine geheimnisvolle Tragik aus. In Vollmondnächten träume ich, wie Großvater ihn einem serbischen Partisanenkind aus den sterbenden Händen reißt. Stoffel ist ein hellblauer Lurch aus Frottee und Minki eine Katze mit einem Auge. Das Auge ist auch nur aus Glas – sie ist also blind. Deshalb erkläre ich Minki die Welt, die ich für sie mit meinen Augen sehe. Stoffel und Bär sind neidisch – das spüre ich. Sie fühlen sich zurückgesetzt, aber Minki braucht doch meine Hilfe!

Jeden Dienstag um 16 Uhr 30 lege ich Stoffel auf eine Couch, die eine leere Schuhschachtel ist, und setze Bär daneben. Stoffel klagt Bär sein Leid und Bär hört Stoffel aufmerksam zu. »Meine Tage sind wie Wunden«, sagt Stoffel mit leiser Stimme und Bär nickt verständnisvoll.

Eines Tages ist Minki verschwunden. Ich frage Mutter. Die weiß von nichts. Vater auch nicht. Bär und Stoffel ebenfalls nicht. Ich glaube niemandem hier ein Wort. Schon mit fünf Jahren empfinde ich das Leben als ein einziges leeres Versprechen, das sich nur für die Lügner und Rücksichtslosen mit falsch glitzerndem Inhalt füllt.

In der Nacht blitzt und donnert es. Ich schleiche mich aus meinem Bettchen auf den Balkon und werfe Bär und Stoffel über die Brüstung. Sie haben Minki getötet; sie müssen weg! Von nun an sind auch meine Tage wie Wunden. Habe ich mir das Ganze wirklich so vorgestellt?

10 Jahre

Ich mache am Schreibtisch Strafarbeiten. Auf einem Baum vor dem Fenster sitzt ein Vogel. Er ist schwarz. Ich kann den Blick nicht abwenden. »Komm, großer schwarzer Vogel«, flüstert es in meinem Kopf. Mein kindliches Naturell ist getrübt von der frühen Erkenntnis, dass Endlichkeit und Unendlichkeit eins sind. Daher auch die Strafarbeiten: Der Mathematiklehrer taugt nicht viel, doch auf mich will ja keiner hören.

Im Fernsehen kommt Winnetou III mit Pierre Briece und Lex Barker. Oben und unten auf dem Bildschirm befinden sich schwarze Balken. Ein dunkles Omen: Winnetou stirbt, doch ich habe keine Tränen mehr.

15 Jahre

Sie kommt auf mich zu. Es ist drei Uhr nachmittags. Sie fasst mich an. Ich fasse sie an. Wir tanzen.

Sie lässt mich wieder los. Es ist drei Uhr nachmittags und dreißig Sekunden. Sie sagt: Du kannst nicht tanzen. Sie hat Recht. Ich kann nicht tanzen. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich es in der Tanzstunde lerne. Das war ein Missverständnis.

Im Grunde ist alles nur ein riesengroßes Missverständnis. Ich glaubte eine Reise ins Paradies gebucht und bin in der Hölle gelandet. Schmerzen ohne Ende – die Wissenschaft sagt Pubertät dazu. Auf dem Heimweg werde ich vom Bäckerlehrling angespuckt. Rasch werde ich Alkoholiker.

20 Jahre

Es ist sechs Uhr morgens auf einem verschneiten Industriegelände in Moabit. Ich bin in der dritten Arbeitswelt angekommen: Die Männer sind abgerissen, der neben mir stinkt nach Schnaps und Kotze. Zwei sind so jung wie ich, einer davon ist schwarz. Einer der Abgerissenen nennt ihn beharrlich ›Kunta Kinte‹. In einem Kleinbus werden wir nach Neukölln gebracht. Dort tragen wir Zettel aus. Die Temperatur beträgt exakt zwölf Grad unter Null. Ich besitze keine Handschuhe. Die Sonne scheint.

Ich klingle an jedem Haus und rufe: »Werbung bitte« in die Gegensprechanlage. Keiner macht auf. Am Abend bekomme ich vierzig Mark. Die vertrinke ich, um zu vergessen, dass es nichts zu vergessen gibt.

25 Jahre

Die Wiedervereinigung macht alles nur noch schlimmer: Ohne eigenes Zutun lebe ich von einem Tag auf den anderen mitten im Osten.

Hadere ich zuviel? In meiner Küchenschublade gibt es ein Fach für Löffel, eins für Messer, eines für Gabeln und ein kleines für Teelöffel: Jedes weiß, wohin es gehört und bescheidet sich klaglos darin. Daran sollte ich mir mal ein Beispiel nehmen.

Auf den Sommer folgt der Herbst, auf den Herbst der Winter. Die Jahreszeiten fliegen dahin. Am 24. Dezember 1990 stirbt Karstadt. Weinende Menschen säumen die Straßen. Ich denke oft an Minki.

30 Jahre

Über zehntausend Wunden hat meine Seele mittlerweile gesammelt, Briefmarken der Bitternis. Das Gute daran: Es sind so viele - ich spüre den Schmerz nicht mehr. Doch auch ein Nachteil deutet sich an: Kaum merkliche Schatten scheinen mein von Natur aus sonniges Gemüt zu verdüstern.

Am 10.001. Tag erhalte ich mit der Post einen Brief. Darin steht: nichts. Unwillkürlich fühle ich mich an die Zeit vor meiner Geburt erinnert. Manchmal denke ich, ich bin zu hart zu Bär und Stoffel gewesen, doch wie sollte ich die Dinge rückgängig machen?

35 Jahre

Ich sitze den ganzen Tag zu Hause rum und mache nichts. Ich bin jetzt Schriftsteller. Das klingt besser als ›den ganzen Tag zu Hause rumsitzen und nichts machen‹. Ab und zu läutet es. Ich eile jedes Mal zur Tür, weil ich mir vorstelle, dass es eine Pizza ist, ein Päckchen oder eine Frau. »Werbung bitte«, schallt es aus der Gegensprechanlage. Ich mache nicht auf.

Wieder und wieder drehen sich meine Gedanken um dasselbe Thema: Womöglich hatte Minki auch Bär angegriffen. Und Stoffel wollte schlichten. Minki ist dann mit dem Hinterkopf unglücklich gegen eine harte Kante gestürzt. Alles war nur ein Unfall.

Draußen rattert die Hochbahn vorbei. Graue Gesichter blicken aus orangefarbenen Zügen - die bunte Palette des Hohns. Irgendwo stirbt ein Hund. Der Frühling ist zu nass.

40 Jahre

Sie ruft an. Es ist fünf Uhr nachmittags. Sie kommt. Es ist halb sechs. Ich habe Kuchen gekauft. Sie sagt: Kuchen später. Wir ficken.

Wir essen den Kuchen. Sie geht. Es ist halb sieben. Ich habe sogar noch Zeit, in den Park zu gehen und ein Bier zu trinken. So habe ich mir das Ganze nicht vorgestellt.

Illustration: K.P.M. Wulff