Bov Bjerg: Wissenswertes über Göttingen

Gegen Ende des Winters geriet ich nach Göttingen. Im Hotel fand ich meine Ohrhörer nicht. Ich kaufte ein Paar neue. Ich legte einen Schneeball auf den Grabstein von Georg Christoph Lichtenberg. Dann ging ich zurück ins Hotel und schaute auf dem Laptop einen Film, ganz laut. Ende des Vorspanns. Titel: Ich, Goldt, Erhardt, Lichtenberg.

 

ICH. Gegen Ende des Winters geriet ich nach Göttingen. Im Hotel fand ich meine Ohrhörer nicht. Ich kippte den Koffer aus. Die Ohrhörer blieben verschwunden. Ich hatte sie im letzten Hotel vergessen. Ich würde losgehen und neue kaufen, und in ein paar Tagen, wenn ich wieder zuhause war, würde ich sie an die Arbeitszimmertür hängen, zu all den nur einmal benutzten Ohrhörern, und wenn ich am Schreibtisch saß, würde ich zur Tür schauen, den immer dichter werdenden Vorhang von Ohrhörerschnüren betrachten, der da herabhing wie eine Sammlung zarter Peitschen, und ich würde zum wiederholten Male feststellen, dass sich alles immer wiederholte, sogar das Vergessen.

Dann stand ich vor einem Elektronikmarkt in der Göttinger Fußgängerzone, in der Hand einen Karton mit eingeschweißten Ohrhörern.

 

GOLDT. Ich sah das Straßenschild: »Weender Landstraße«. In Weende war ein Mann geboren, den ich einmal leichtfertig geduzt hatte. Vielleicht lebte seine Mutter noch dort oder ein anderer Verwandter. Ich machte mich auf den Weg nach Weende, um mich bei dem Mann, den ich einmal leichtfertig geduzt hatte, hilfsweise bei seiner Mutter oder einem anderen Verwandten zu entschuldigen.

 

ERHARDT. Eine Kreuzung mehrspuriger Straßen, stark befahren. Auf einem rotweiß gestreiften Sockel stand ein Verkehrspolizist, lebensgroß auf Pappe gezogen. Er trug einen weißen Mantel. Ein Arm wies zur Seite, der andere nach vorn, die Hand im Gelenk zur Stopphand nach oben geknickt. Ich stoppte. Es war ein Denkmal zu Ehren des beliebten Schauspielers Heinz Erhardt.

Seit Kindertagen verwechselte ich diesen Mann mit wechselnden anderen Männern: zuerst mit Heinz Eckner, dem Kompagnon Rudi Carells; später auch mit Meister Eckart, dem spätmittelalterlichen Mystiker, den ich wiederum bis kurz vor der allgemeinen Hochschulreife in eins gesetzt hatte mit Johann Peter Eckermann, dem Sekretär Goethes. Um diese Personen, Objekte ohnehin bereits genügend in sich verschachtelter Verwechslungen - ich wiederhole: Meister Eckart mit Eckermann, beide sowohl gemeinsam als auch einzeln mit Heinz Eckner, diesen wiederum mit Heinz Erhardt -, um diese Personen scharten sich weitere, die durch Gleichlaut, ähnlichen Beruf oder sonst ein gemeinsames Drittes mit ihnen verknüpft waren. Es handelte sich dabei im wesentlichen um den gelernten Geldbriefträger Walter Spahrbier, den Vater des Wirtschaftswunders Ludwig Erhard, sowie die DDR-Lyrikerin Gabriele Eckart, die Mitte der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mit Erscheinen ihres mutigen Buches »So sehe ick die Sache« meinen Verwechslungsfundus betrat.

Beim Gedanken an Walter Spahrbier drängte sich der Name des seinerzeitigen Bundespostministers Kurt Gscheidle ins Bewusstsein; Heinz, nein, Ludwig Erhard wiederum evozierte unwillkürlich das Bild des britischen Kriegspremiers Winston Churchill.

Weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die zu nennen zu weit führen würde, gruppierten sich um die genannten, doch konnte, was jene anging, dieser Umstand kaum noch dem Problemkreis der spontanen Verwechslung zugerechnet werden, sondern gehörte bereits zum zum geringen Teil deckungsgleichen, im wesentlichen aber wesentlich umfassenderen Problemkreis des zwanghaften Assoziierens schlechthin.

Heinz Erhardt. Der beliebte Schauspieler. Der vom Verkehrsfeinstaub umflorte Pappendeckelmann, darauf wies eine Tafel im Schneematsch vor dem Denkmal hin, zeigte den beliebten Schauspieler – alles wiederholte sich – als Verkehrspolizist Dobermann in dem Kassenmagneten »Natürlich die Autofahrer«; ein Film, der 1959 in Göttingen gedreht worden war und mit dem sich, so die Tafel, der beliebte Schauspieler – und wie sich das wiederholte! – um die südniedersächsische Universitätsstadt verdient gemacht habe.

 

LICHTENBERG. Auf dem Gehweg der Weender Landstraße schlappte ich an einem schmelzenden Schippschneewall entlang Richtung Weende. Ich tastete in der Parkatasche nach der Ohrhörerpackung. Sie war noch da. Ein Rasenstück mit Grabsteinen. Ein aufgelassener Friedhof. Hinter einem Schippschneehaufen gluckerte ein Gully.

Ich beschloss, meinen Plan, nach Weende zu gehen, um mich zu entschuldigen, geringfügig zu modifizieren. Jetzt suchte ich das Grab von Georg Christoph Lichtenberg, um mich zu bedanken. Lichtenberg: Schriftsteller, Stadtbezirk, Dompropst.

Die Grabsteine standen weit auseinander. Ich stapfte durch den Schnee von Stein zu Stein und las nach, ob es der Stein von Lichtenberg sei. In der Ferne sah ich einen Stein, über dessen Schultern ein blaues Hemd gehängt war. Ich erinnerte mich an einen Aphorismus Lichtenbergs, in dem von einem Hemd die Rede war, und ich war mir sicher, dies sei nun der Lichtenberg-Stein, über dessen Schultern, in Reminiszenz an den bekannten Aphorismus und gleichsam um den Dichter zu wärmen, ein Besucher ein blaues Hemd gehängt hatte.

Es war aber nicht der Stein von Lichtenberg, und der Aphorismus war der mit der Hose.

Meine Schuhe waren schwarz vor Nässe. Von oben sahen sie aus wie Anführungszeichen auf Schreibpapier.

 

Wahrscheinlich war der Grabstein von Lichtenberg längst verwittert und unauffindbar. Ich verfluchte die Stadt Göttingen, die es nicht für nötig hielt, ihrem größten Sohn ein ehrendes Angedenken zu bewahren. Eine Stadt, die sich so viel einbildete auf ihre Tradition in Sachen Dichten und Denken! Ich führte erregte Telefonate mit den einschlägigen Ämtern (Ordnungsamt, Denkmalpflege, Büro des Oberbürgermeisters), ich schrieb zornige Briefe an die regionale Presse (Göttinger Tageblatt), und wegen der Bedeutung des Falles an die überregionale auch (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine).

Ich wurde in den Tagesthemen interviewt, »wir haben das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet«, aber eine Einladung zu Kerner lehnte ich ab. Hildegard Hamm-Brücher sandte mir ein aufmunterndes Telegramm.

Sollten andere Menschen in ihren Tagträumen sich ruhig mit Varianten des Geschlechtsverkehrs befassen oder, je nach Temperament, mit den verschiedenen Möglichkeiten eines Suizids. Mich führte die Imagination regelmäßig in ein inneres Utopia des beherzten zivilgesellschaftlichen Engagements (Leserbriefe, Demonstrationen, Boykotte) mit mir als wesentlichem, ganz präzise ausgedrückt: als einzigem Akteur.

Als das Büro des Bundespräsidenten anfragte, ob ich gegebenenfalls das Bundesverdienstkreuz annähme, antwortete ich nicht. Als man mir den Aachener Orden wider den tierischen Ernst verleihen wollte, wanderte ich verbittert nach Übersee aus.

 

Endlich sah ich einen markanten Grabstein. Der Tagtraum von der Zivilgesellschaft löste sich auf. Die Wirklichkeit drang durch, und sie war schön. In der Wirklichkeit existierte ein äußerst auffälliger Grabstein für Georg Christoph Lichtenberg. Ein bemooster Säulenstumpf, daran die Tafel mit Inschrift, obendrauf eine steinerne Urne. Ein großer Aschenkübel. Eine Totensuppenterrine.

Auf der Tafel mit der Inschrift stand die Inschrift: »Gottfried August Bürger«.

Man hatte mich getäuscht. Der Zivilgesellschaftstraum kam wieder, erhabener und machtvoller denn je

Ich saß gerade beim Abendbrot. Die Fernsehnachrichten schalteten live nach Europa. Der Bildschirm schwarz. Eine Stimme sagte: »Göttingen, deep at night.« Ein Brummen, das lauter wurde. Leuchtraketen. Die Silhouette der Stadt. Bombenblitze. Rauchsäulen, Rauchpilze, erleuchtet von der brennenden Stadt. Es war nicht schön, doch es war notwendig.

Ich sammelte 3,8 Millionen Dollar Spenden, und bald erhob sich an der Stelle, an der einst Göttingen gestanden hatte, ein solider Marmor. Auf dem stand in meterhohen Lettern aus Blattgold: »Das kommt davon.«

 

Ich schlurfte durch den Schnee zurück zum Ausgang, rückwärts, die Hacken voraus. Ich tastete nach der Ohrhörerpackung. In den Schlurfspuren räkelten sich Grashalme. Die Ohrhörer waren noch da. Ich stieß gegen einen Stein. Ein Sandsteinkreuz, es musste vor kurzem erst gesandstrahlt worden sein, es war ganz mooslos und weiß, und als ich um das Kreuz herumging, sah ich, dass es der Grabstein von Georg Christoph Lichtenberg war. Frisch restauriert.

Ich kehrte kurz in den Zivilgesellschaftstraum zurück und ersetzte die Inschrift auf dem Göttingen-Marmor: »Sorry.« Das gehörte nämlich auch zur Zivilgesellschaft, dass man nötigenfalls bereit war, einen Irrtum auch einzugestehen.

Dann bückte ich mich und schob zwei Hände voll Schnee zusammen. Der Schnee war schwer und nass und leicht zu formen. Weißblende, Abspann, Making of.

 

Gegen Ende des Winters geriet ich nach Göttingen. Ich legte einen Schneeball auf den Grabstein von Lichtenberg. Ich ging zurück ins Hotel und schaute auf dem Rechner einen Film. Ich stellte den Ton ganz laut. Ich spleißte das Ohrhörerkabel und breitete die Arme aus. Ich hatte den Film schon einmal gesehen, aber die Handlung komplett vergessen. Links und rechts in meinen Händen klirrte der Ton zum Film.