Stephan Zeisig: Was für ein notgeiler alter Sack!

Manchmal widerfahren anderen Menschen Malheurs, obgleich sie diese vermutlich gar nicht beabsichtigen. Zum Beispiel am letzten Donnerstag im N5er-Nachtbus, den ich nehmen musste, um zurück zu mir nach Lichtenberg zu kommen. Ich stieg Frankfurter Tor zu, fand auch gleich einen Platz. Samariterstraße kam eine Gruppe Jugendlicher in den Bus und platzierte sich im Mittelteil. Ich beachtete sie zunächst nicht und las weiter gefesselt in Walter Benjamins Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Nach wenigen Sekunden wurde ich jedoch aus meiner Lektüre gerissen durch den Lärm, den die Jugendlichen veranstalteten. »Ihr traut euch nicht!« – »Ihr traut euch nicht!« Ich blickte von meinem Buch auf. Wie ich schnell mitbekam, ging es darum, dass die drei Jungs der Gruppe die beiden weiblichen Mitglieder, Mandy und Candy, damit aufzogen, dass sie sich nicht den Mut hätten, einander zu küssen. Die damit einhergehende Diskussion empfand ich als ausgesprochen störend.

Ich war fest entschlossen, mir dieses rücksichtslose Verhalten der fünf Rotznasen nicht bieten zu lassen. Ich war fest entschlossen, etwas zu ihnen zu sagen, denn es konnte ja nicht angehen, dass sie mit ihrem Kinderkram den ganzen Bus belästigten. Wenn sie niemand in die Schranken wies, dann würden sie irgendwann total verrückt spielen. Zunächst wollte ich jedoch noch einen Moment abwarten, um zu sehen, ob sich das Problem von alleine löste. Leider tat es das nicht. Mandy und Candy zierten sich auch noch U-Bahnhof Magdalenenstraße, so dass das Gelärme anhielt.

Ich hielt mir Walter Benjamin vors Gesicht, um sie unbemerkt beobachten zu können. Nur wenn ich sie permanent im Auge behielt, würde ich den entscheidenden Moment nicht verpassen, an dem ich einschreiten musste. Der Mann mit dem Spiegel rechts neben mir war ebenfalls wachsam. Ein etwa 60jähriger Herr gegenüber hatte sich sogar ein Loch in sein Neues Deutschland gebohrt. Gut zu wissen, dass ich, falls ich mich entschließen sollte, meiner Bürgerpflicht nachzukommen, noch zwei Verbündete an meiner Seite haben würde. Sicher war sicher. Man konnte nie ausschließen, dass die Jugendlichen Nazis waren. »Küssen! Küssen!« riefen die Typen im Chor. »Ihr kriegt dann auch zehn Euro!« Dann grölten sie.

Ich verstand ihr Verhalten nicht. Warum küssten sich die beiden Mädchen nicht endlich? Mir war das nicht wichtig. Ich war schließlich kein geiler Bock. Ich wollte lediglich, dass sie die Sache schnell erledigten und ich endlich wieder in Ruhe lesen durfte. Meine beiden Leidensgenossen sahen das, ihrer Unruhe nach zu urteilen, ähnlich. Übrigens waren Mandy und Candy durchaus nicht unansehnlich. Aus rein ästhetischen Gründen wäre so ein richtiger Zungenkuss zwischen den beiden sicher sogar ein bisschen erotisch.

Bahnhof Lichtenberg, wo ich aussteigen musste, hatten sich Mandy und Candy immer noch nicht durchgerungen. Ich entschied spontan, noch im Bus zu bleiben. Nicht wegen des Kusses, sondern weil ich einfach wissen wollte, wie die Geschichte ausging, so lächerlich sie mir natürlich vorkam. Es handelte sich bei den fünfen im Grunde noch um Kinder. Die sollten erstmal, wie ich, 24 werden. Dann würden sie begreifen, wie lächerlich sie sich verhielten. Der Spiegel- und der ND-Leser tauschten verständnislose Blicke aus. Besonders Mandy war übrigens ausgesprochen sexy. Warum hatte sich Candy nur so dickköpfig? Kurz vor Friedrichsfelde hatte sich immerhin Mandy breitschlagen lassen. Allerdings zickte Candy weiter: »Zehn Euro sind ma zu wenig. Ich will zwanzig!« – »Wir ham aba nur zehn«, erklärten die Jungs. Ich schaute in meinem Portemonnaie nach. Genau zehn Euro besaß ich noch. Lag es an mir, der Geschichte zu einem Happy End zu verhelfen? Aber ich wollte erstmal abwarten, ob sich die Dinge nicht auch von alleine zu meinen Gunsten entwickelten.

Illustration: K.P.M. Wulff

Leider verlor der 60jährige ND-Leser nahe Wuhletal wegen der nicht enden wollenden Diskussion der Pubertierenden die Beherrschung: »Mensch, jetzt küss die Schnecke endlich!« Mit dieser Bemerkung machte er alles zunichte. Candy und Mandy signalisierten, dass jetzt erst recht nicht mehr mit ihnen zu rechnen war. Der Herr mit dem Spiegel und ich schüttelten ob des unflätigen Ausspruchs des alten Zausels fassungslos den Kopf. Was für ein notgeiler Sack! Kaulsdorf Nord stieg ich aus. Die beiden anderen Männer auch. Gemeinsam überquerten wir die Straßenseite zur gegenüberliegenden Haltestelle. In einer halben Stunde käme der nächste N5 in Richtung Alex.