Andreas Scheffler: Alle, Löschen, Go

Alle, löschen, go. Alle, löschen, go. So geht das jetzt schon seit gut einer Viertelstunde. Noch 2714 Mails. Alle, löschen, go. Das kommt davon, wenn man etwa sechs Monate lang seinen Spamverdachtordner nicht geleert hat. Man kann immer nur zehn Nachrichten auf einmal löschen bei gmx (dachte ich zu der Zeit). Eine stupidere Arbeit gibt es nicht. Da würde ich sogar noch lieber Laub harken. Sogar bei Sturm. Obwohl: Laubharken bei Sturm ist auch eine ziemlich bescheuerte Beschäftigung. In Groß Köris, also auf dem Lande, ist man bei den Nachbarn unten durch, wenn man nicht regelmäßig Laub harkt. Anfangs wird man noch höflich ermahnt. »Sie müssen an der Straße aber noch das Laub aufharken.« Später heißt es dann: »Bei Ihnen in der Stadt gibt es wohl keine Bäume. Ihr Laub, das weht alles zu uns rüber. Der Türke schmeißt seine Blätter auch immer bei uns vor‚n Zaun.« Der Türke, der in Wirklichkeit Bulgare ist, besitzt einen Laubsauger und entsorgt seine welken Blätter vorschriftsmäßig in Laubsäcken. Aber schließlich fährt man doch auch zu unwirtlichen Zeiten hinaus auf sein geplantes Altersdomizil, um Laub zu harken. Auch bei Sturm. Eine Scheißarbeit.

Alle, löschen, go. Es klingelt. Na, das wär doch was, wenn Herr Osterheld aus dem Seitenflügel endlich sein Paket abholen würde; das sehr große aber auch sehr leichte Paket aus der Schweiz, bei dem man durch Rütteln nicht herauskriegen kann, was drin ist, dieses Paket, das jetzt schon seit drei Wochen bei uns im Flur steht. Wir wohnen im Vorderhaus, erstes Obergeschoss, ich bin quasi immer zu Hause, und somit ist unsere Wohnung Paketstation für alle Nachbarn. Ich glaube, dass manche Boten bei Nachbarn, die höher als drei Treppen wohnen, gar nicht erst klingeln. Schließlich gibt es Schefflers. Die sind immer zur Stelle und haben eh nichts zu tun. Manchmal bekommen wir für diesen Service eine Flasche Wein, selbst gemachte Marmelade oder eine Wurst. Nicht vom Paketboten, was korrekt wäre, sondern von den Nachbarn. Es klingelt noch mal. Ich stürze auf den Flur und falle beinahe über ein sehr kleines, dafür aber überaus schweres Paket aus Gummersbach für Frau Seidler aus dem Hinterhaus. Mein linker großer Zeh tut höllisch weh, ich beiße die Zähne zusammen und öffne die Tür. Im Treppenhaus stehen drei Zwerge in abwegigen Verkleidungen und stammeln: »Was Süßes oder was Saures.“ Das hatte ich ganz vergessen. Noch am Nachmittag hatte bei Schlecker an der Kasse vor mir ein ziemlich angesoffener und auskunftsfreudiger Herr gestanden, der jede Menge Süßkram und nicht weniger Flaschen Wein gekauft hat. Die Süßigkeiten, »weil ja heute Halloween ist«, und den Wein, weil: »Meine Frau ist Alkoholikerin, und da muss immer was im Haus sein.«

Ich hatte mir das mit seiner trunksüchtigen Frau gemerkt und Halloween verdrängt. Jetzt stehe ich vor drei kleinen Menschen, die als Vampire verkleidet sind und die mir zu verstehen geben wollen, wenn sie nicht etwas Süßes von mir bekämen, hätte ich etwas Saures zu erwarten. Ich finde Kinder, die schnorren, obwohl sie es nicht nötig haben, zum Kotzen. Außerdem habe ich nichts Süßes. Das gehört alles Sabine. Ich hab noch ein Päckchen kratziger ukrainischer L&M Zigaretten. Solln sie doch mal sehen, was mittellose Pakethilfslageristen, die kostbare Lebenszeit damit vergeuden, Spammails zu löschen, so wegrauchen müssen. Ich werfe das Päckchen in ihren herausfordernd aufgehaltenen Sack, sie bedanken sich, wie es sich gehört, und ich gehe wieder an den Computer.

Illustration: K.P.M. Wulff

Alle, löschen, go. Noch 2204. Wenn es noch mal klingelt, hätte ich noch ein paar Chinaböller vom letzten Silvester. Und von dem einen und anderen kleinen Kümmerling könnte ich mich auch noch trennen. Go. Nein, halt, nicht go. Eine Nachricht von Gabi. Ich kenne keine Gabi. Betreff: Ich will Dich! Na ja, wer will das nicht? Ich klicke auf ›Verschieben nach Posteingang‹. Posteingang. Gabi schreibt: ›Wir haben uns am 28.10. in Gütersloh kennen gelernt. Du weißt doch noch. Ich bin blond, schlank, Anfang 40 und hatte ein schwarzes Kostüm an. Demnächst bin ich in Berlin und würde Dich gern wieder sehn. Melde Dich. Meine Hüften beben.

Gabi. Gütersloh. Ich war tatsächlich am 28. Oktober in Gütersloh. Ich habe in der Stadthalle einen Ball moderiert. Aber ich kenne keine Gabi. Ich war stocknüchtern, kann also keine Erinnerungslücken haben. Außerdem war Sabine mit. Aber ein Vorfall war da. In der Pause kam eine Gruppe von vier ziemlich angetrunkenen Frauen auf mich zu. Bildungsbürgertum, gut situiert, verwöhnt. Sie kreisten mich ein, eine zog mir an den Haaren, kicherte schrill und schrie: »Die sind ja echt! Ich dachte, das wär ne Perücke!« Dann guckte sie lasziv, ergriff mein Kinn mit Daumen und Zeigefinger – es fühlte sich an, als wäre ich in einen Schraubstock geraten – ruckte mein Gesicht in ihre Richtung und versuchte mich zu küssen. Ich konnte das verhindern, dachte kurz, ich hätte nun einen Fan verloren, was mich nicht weiter störte, aber dem ist offenbar nicht so. Gabi, vermutlich Gabriele, war tatsächlich blond und hatte ein schwarzes Kostüm an. Anfang 40 war sie eher nicht. Anfang 50 würde ich schätzen. Das wäre mir egal, aber ich mag es nicht, an den Haaren gezogen und am Kinn gekniffen zu werden. Außerdem habe ich nicht vor, Ehebruch zu begehen. Schon gar nicht mit unausgelasteten Hausfrauen der oberen, aufstrebenden Mittelschicht in Gütersloh. Sie hat mich vermutlich gegoogelt. Das ist der Preis dafür, eine Heimseite zu haben.

Löschen.

Weiter bei gmx. Alle, löschen, go. Es klingelt schon wieder. Bitte nicht Gabi. Auf meiner Homepage steht zwar nicht meine Adresse, aber die Andreas Schefflers im Telefonbuch kann man schließlich auch abarbeiten, wenn man besessen ist und einem die Hüften beben. Da wären mir jetzt irgendwelche Halloween-Zwerge aber hundertmal lieber. Ich stecke mir vorsorglich zwei Kümmerling ein und gehe zur Tür. Vor mir steht Herr Osterheld aus dem Seitenflügel. Wie ich dazu käme, seinem Sohn ein Päckchen Zigaretten in den Sack zu schmeißen, will er wissen. Ich sage, dass die ja eigentlich für ihn gedacht gewesen seien; und außerdem hätte ich da noch ein Paket für ihn. Ach, sagt er, er habe gar keinen Zettel im Briefkasten gehabt. »Na, dann ist ja jetzt alles gut«, sag ich und biete ihm einen Kümmerling an. Er freut sich, wir trinken, und er zieht mit seinem großen leichten Paket aus der Schweiz, von dem ich bis heute nicht weiß, was drin war, wieder ab. Zehn Minuten später ist mein Spamverdachtordner endlich leer. Und meine Chinaböller bin ich auch noch losgeworden.