Heiko Werning: Authentische Internationale Spezialitäten

Wenn es so etwas wie einen kollektiven Fundus an Meinungen und Überzeugungen der Was-man-halt-so-Intelligenz-nennt eines Landes geben sollte, dann ist in jenem der deutschen eines ganz fest verankert: nämlich die Überzeugung, dass Restaurants mit Spezialitäten anderer Länder immer nur eine irgendwie eingedeutschte, mithin also falsche Version der fremden Gerichte anbieten. Denn so ist er halt, der Ausländer: Irgendwie will er uns ja doch immer bescheißen, und sei es, dass er seine Pizzen nicht standesgemäß backt oder die Süßsauer-Soße verhunzt. Aber ihm, dem aufgeklärten, dem weltläufigen Deutschen, kann der so schnell nichts vormachen, denn er, der aufgeklärte, weltläufige Deutsche, weiß ja schließlich, was so abgeht. Und darin, dem Ausländer zu erklären, wie er sich als Ausländer zu verhalten habe, darin ist der Deutsche ja ohnehin spitzenklasse.

Besonders gerne beklagen sich die aufgeklärten, weltläufigen Deutschen z. B. in mexikanischen oder sonstwie lateinamerikanischen Restaurants darüber, dass das Essen ja gar nicht ordentlich scharf sei, das sei doch wieder nur so eine verweichlichte, abgeschmackte, kommerzielle Sache, um das besser an die anderen Deutschen zu verkaufen – die der aufgeklärte, weltläufige Deutsche nämlich generell für provinziell hält und so dumm, dass sie sich jeden Scheiß als exotisches Gericht verkaufen lassen.

Viele Mexikaner haben angesichts des fortwährenden Genörgels irgendwann kapituliert und bieten nun tatsächlich scharfe Gerichte an, und dann freut sich der aufgeklärte, weltläufige Deutsche, dass er endlich mal etwas bewirkt hat. Mit dem bizarren Resultat, dass es nun tatsächlich sozusagen eingedeutschtes Essen in Latino-Restaurants gibt.

Illustration: K.P.M. Wulff

Denn in ganz Mexiko bekommt man nirgends was Scharfes auf den Teller. Das Scharfe steht vielmehr neben dem Teller, ist rot oder grün und zähflüssig, und jeder Mexikaner dosiert es sich selbst nach eigenem Geschmack in sein Gericht hinein; meistens sehr vorsichtig, und er weiß auch, wieso. Wenn so ein Großmauldeutscher (iese vernünftige Vorsichtsmaßnahme in Mexiko aber erstmals sieht, dann meint er, jetzt müsse er es den Mexikanern aber mal richtig zeigen, was für ein harter Hund er ist, nicht so ein luschiger Provinzler, kein blöder Gringo, der nichts verträgt, nein, er nimmt die Soße und löffelt sie ordentlich über das Essen, und noch einen Schlag und dann noch einen. Der mexikanische Wirt steht im Hintergrund, beobachtet das Szenario interessiert, zieht vielleicht unauffällig ein wenig die Brauen hoch, aber er sagt nichts. Beifallheischend guckt der Deutsche sich um – Ha! Habt Ihr‘s gesehen! Ich hab‘s richtig ordentlich scharf gemacht! – und dann gibt es eine sehr lustige Szene, die in den immer gleichen Phasen verläuft:

  • Zunächst, nachdem er sich die Gabel in den Mund geschoben hat, kurzes Erstarren, nur für den Bruchteil einer Sekunde.
  • Ein Moment des ungläubigen Retardierens. Die wenigen überlebenden Geschmacksnerven des Erstkontakts mit der kulinarischen Biowaffe melden höchste Alarmstufe, aber er glaubt es nicht, man sieht geradezu, wie es in ihm arbeitet: Das kann gar nicht sein. Ich mag scharfes Essen. Ich kann das ab. Ich bin nicht so ein weichlicher Gringo. Hier muss irgendein Missverständnis vorliegen. Am besten, ich ignorier das einfach und esse ganz normal weiter. Bloß nichts anmerken lassen.
  • Nach diesem kurzen Moment des Innehaltens geht der Essvorgang ganz normal weiter. Die Kau-, Zungen- und Gesichtsmuskeln setzen sich wieder in Bewegung und nehmen ihre Arbeit auf, der Bissen wird weiter im Mund zerkleinert und dann – der nächste Fehler – hinuntergeschluckt.
  • Alle Systeme im Körper schlagen Alarm. Aber der Deutsche ist willensstark. Er verträgt scharf. Er mag scharf total gern. Er nimmt ungerührt eine zweite Gabel und führt sie zum Mund. Vielleicht noch eine dritte oder vierte.
  • Für alle Umstehenden sichtbar, treten dicke Schweißtropfen auf seine Stirn.
  • Der Mund wird geöffnet, mit kruppstählernem Willen wird Gabel um Gabel Millimeter um Millimeter Richtung Gaumen geführt, man sieht den aussichtslosen Kampf, den der Körper mit allen Mitteln dagegen führt, aber der Deutsche will sich keine Blöße geben, dieser Gedanke besiegt alles andere, kaum merklich langsamer als normal gelangen die Bissen in den Mund.
  • Die Kau- und Speichelbemühungen des Mundes werden nun sichtbar langsamer. Von außen betrachtet wirkt jetzt alles wie in Zeitlupe. Von innen betrachtet würde man einen heftigen Kampf zwischen Willen, Glauben und den Signalen des Körpers, die noch Restkontakt zur Realität haben, beobachten können.
  • Ungesunde Gesichtsverfärbung, der Schweiß beginnt zu fließen, die Hände zittern.
  • Mühsame und langsame letzte Kau- und Zungenbewegungen.
  • Wille und Glauben kapitulieren. Jetzt endlich putscht der Körper und übernimmt die Alleinherrschaft.
  • Sofort brechen alle Dämme. Schnauben, Prusten, entweder panisches Runterschlucken oder Ausspucken des letzten Bissens in Hand oder Serviette.
  • Hektischer Griff zum Getränk. Trinken, trinken, trinken. Schlucken, schlucken, schlucken. Noch mehr trinken. Alles in allem: der nächste Fehler.
  • Ungläubiges Entsetzen.
  • Erster Gedanke daran, dass er das hier womöglich nicht überleben könnte. Aber immer noch keine Einsicht, denn:
  • Noch mehr trinken. Schlucken. Trinken. Schlucken.
  • Durch das Getränk ist die feindliche Substanz nun perfekt in Mund-, Rachen- und Kehlraum verteilt und kann ihre volle Wirkung entfalten. Nun ist nichts mehr zu retten.
  • Der Deutsche flüchtet panikartig zu den Toiletten.
  • Unwürdige Geräusche von dort.
  • Die Mexikaner lachen sehr ausgelassen.
  • Noch zwei Tage danach wird der Deutsche bei jedem Stuhlgang, und er wird viele Stuhlgänge haben, eindringlich und schmerzhaft an seine Lektion erinnert, denn ihm brennt der Arsch, und zwar höllisch. Und beim Abputzen wird alles noch schlimmer.

Sie glauben mir nicht? Sie meinen, das sei übertrieben? Ist es nicht. Bei mir war das so.