Spider: Der große Streik

Der Streik ging in die achte Woche, deutschlandweit. Ich war auch betroffen. Manchmal musste ich vormittags raus, sonst hatte mich immer ein Werbeausträger geweckt, indem er an der Haustür läutete: »Werbung bittäh!« Aber die streikten ja. Ich hatte mir einen Wecker kaufen müssen. Wer wusste schon, wie lange er noch weitergehen würde, der große Streik der Werbeausträger?

Eigentlich fanden es alle gut, eigentlich genossen es alle. Vielleicht war ein Ausstand einfach das falsche Mittel. Niemand dachte daran, die Werbeausträger in ihren Zielen zu unterstützen. Niemand fühlte sich durch diesen Streik behindert und wollte ihn beendet sehen, im Gegenteil.

Selbst ich hatte mir ja nun einen Wecker gekauft, meinetwegen brauchten sie den Streik jetzt auch nicht mehr abbrechen. Dabei hatte ich tatsächlich einen Brief an die Streikführung geschrieben, in dem ich appellierte, den Ausstand zu beenden und die Arbeit wieder aufzunehmen. Ich hatte aber nicht schreiben können, dass ich eigentlich nur das Geld für einen Wecker sparen wollte. Also schrieb ich nur: »Bitte, ich flehe Sie an, kommen Sie wieder jeden morgen an meine Haustür! Klingeln Sie mich wach! Ich brauche Sie, machen Sie sich auf den Weg! Sie brauchen auch keine Werbung mitschleppen. Klingeln Sie bloß so! Dafür können Sie nicht als Streikbrecher belangt werden. Verteilen Sie keine Reklame in unseren Briefkästen, streiken sie ruhig weiter! Aber klingeln Sie! Bitte! Bitte-bitte!«

Man hatte mir sogar geantwortet: »Sie wollen allen Ernstes, dass wir durch die halbe Stadt latschen, um in aller Herrgottsfrühe bei ihnen zu läuten? Das ist doch totaler Unsinn. Ich glaube, dass sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen sollten.«

So eine Frechheit. Genau das hatten sie doch jahrelang getan, sie waren in aller Herrgottsfrühe durch die Stadt gelatscht und hatten mich aus dem Bett geklingelt. Und bloß weil sie Reklame in die Briefkästen dabei hatten, empfanden sie das nicht als absurd. Wer brauchte denn hier die professionelle Hilfe? Frechheit!

Daraufhin kaufte ich mir den Wecker. Er ist jeden Cent wert, den ich für ihn gezahlt habe. Bemerkenswert ist, dass ich den Wecker nicht wegen irgendeiner Reklame, sondern wegen des Fehlens von Reklame kaufte. Und das beste ist, den Wecker stelle ich bloß dann, wenn ich wirklich mal früh raus muss. Der Werbezettelfuzzi hatte ja jeden Morgen geklingelt. Damals, vor dem großen Streik.

Eigentlich war dieser Streik ein Segen. Das laute Polterauto, das immer die Altpapiertonnen abholt, kommt nur noch alle zwei Wochen.

Dieser Streik führte zur vollständigen Abschaffung eines kompletten Berufsstandes. Lange Zeit war es ein Rätsel, wie es überhaupt dazu kommen konnte, zu diesem eigentlich doch merkwürdigen Streik. Kaum einer wusste, dass ein desillusionierter Werbetexter dahinter gesteckt hatte. Ich kannte ihn, wir trinken oft ein Bier zusammen. Der Typ hatte tatsächlich den großen Streik initiiert. Er machte daraus kein Geheimnis, aber auch kein Trara. Er mochte das nicht, dieses Tamtam und Geschiss, dieses Spektakelnde, Aufgeblasene. Das hatte er in seinem Job als Werbetexter zur genüge gehabt. Irgendwann war sein Gewissen erwacht. Er wollte nicht länger Leute belügen und manipulieren. Er hatte beschlossen, einen echten Beitrag zu leisten, und er hatte das Zeug dazu.

Er hatte die Reklameausträger immer und immer wieder bearbeitet, gecoacht, motiviert, bis sie schließlich glaubten, sie seien wer, sie seien wichtig, unverzichtbar und unterbezahlt. Das mit dem unterbezahlt stimmte wahrscheinlich sogar, der Rest war der blanke Unsinn, aber er war Werbetexter, er hatte den Job von der Pieke auf gelernt, er war verdammt gut, und er verkaufte dem Zettelsteckern eine Überzeugung, für die sie sich dann selbst abschafften.

»Eigentlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein«, sagte er in seiner Stammkneipe beim Bier, »eigentlich nur ein Anfang. Es gibt ja noch Werbung. Zwar machen sie uns nichts mehr in die Briefkästen, aber sieh mal: Fernsehen, Kino, Zeitungen – alles voll. Und diese Werbetafeln auf den Straßen! Aber darum sollen sich andere kümmern. Ich habe meinen Teil getan.«

Recht hatte er. Ich hätte ja auch gerne etwas unternommen, gegen die Werbung. Aber was? Ich beschloss mal gründlich darüber nachzudenken, und zwar am nächsten morgen. Ich hatte ja einen Wecker, den ich mir stellen konnte. Er klingelte, ich dachte nach, mein Kopf hatte eine Idee. Der Rest ist Geschichte. Nur weil ich mir damals, während des großen Streiks, einen Wecker kaufte, gibt es heute keine Werbung mehr.