Heiko Werning: Besuch vom Jugendamt

Da haben wir nicht schlecht gestaunt, als wir den an uns gerichteten Brief vom Jugend- und Gesundheitsamt Wedding aus seinem Umschlag fischten, in dem die Dame vom Amt uns zur Geburt unseres Sohnes gratulierte und außerdem noch gleich ihren Antrittsbesuch bei uns ankündigte. Am nächsten Mittwoch um 10 Uhr würde sie mal vorbeikommen.

Sprachlos starrten wir erst auf den Zettel, dann mit vorwurfsvollem Blick auf unseren drei Monate alten Sohn. Er musste uns verpfiffen haben. Aber wie hatte er das angestellt? Und vor allem: Was hatte er denen erzählt? Dass er nicht mehr gestillt wird? Da war er doch selbst Schuld. Er war es doch, der sich bei dem Versuch, ihn ordnungsgemäß zu säugen, angestellt hatte, als wäre er der Star in dem Streifen Angriff der Monstertitten. Und da wir ihn schlecht verhungern lassen konnten, bekommt er seither halt das Fläschchen. Ein ganz normaler Vorgang, sollte man meinen. Hätte ich bis vor drei Monaten auch gedacht. Aber dann mutierten bislang unauffällige, freundliche Bekannte plötzlich zu reißenden Bestien mit Schaum vor dem Mund, nur weil sie ein Kind hatten und wir jetzt auch. Miteltern – das ist die Umkehrung, die Negation des Wortes Mitmenschen. »Was, Ihr wohnt nicht zusammen in einer Wohnung? Wie soll das denn gehen mit einem Kind?« – »Was, Ihr wollt weiter im Wedding wohnen? Aber das Kind?« – »Was, Ihr wollt beide weiterarbeiten? Und das Kind? « Oder alternativ solo an meine Freundin: »Was, Du setzt ein halbes Jahr mit der Arbeit aus wegen Deinem Kind? Wie soll das denn gehen mit der Emanzipation?«

Illustration: Flix

Jahrzehntelang kann man in Ruhe vor sich hinmachen, und plötzlich meint jeder Dösel, über unser Privatleben mitreden zu müssen, nur weil wir plötzlich Eltern geworden sind und sich da jeder zuständig fühlt. Dabei scheint das Gestille einer der ganz großen Fetische der Baby-Community zu sein. Manche, denen wir von dem gescheiterten Ernährungskonzept berichteten, starrten uns an, als hätten wir unsere Ehren-Mitgliedschaft im Pädophilenverein gebeichtet. Nun ist Stillen ja zweifellos eine tolle Sache, aber es gibt auch gute Gründe, anders vorzugehen. Da können die Nationale Stillkommission und die La-Le-Lu-Leche-Liga die Milchquoten hochsetzen, wie sie wollen, Frauen sind nun mal kein Melkvieh. Die Hebamme versuchte, meine Freundin zum Besuch eines Still-Cafés zu bewegen, weil es sich in Gemeinschaft schöner stille. Meine Freundin mag sich aber nicht völlig aufgeben, nur weil sie Mutter geworden ist, und wies dieses Ansinnen freundlich, aber bestimmt zurück. Der Gebärgeneral guckte, als hätten wir eben beschlossen, jetzt doch noch zur Babyklappe zu gehen.

Apropos Babyklappe. Irgendeine Lösung für den Besuch der Frau vom Jugend- und Gesundheitsamt musste her, denn eine Kollision mit beiden Tätigkeitsbereichen der Behörde schien denkbar. Eins war schon mal klar: Von der Existenz und dem unordnungsgemäßen Zustand meiner Wohnung durfte sie nichts erfahren, sonst würde sie das Kind gleich beschlagnahmen. Oder die mobile Babyklappe rufen, wer weiß. Wir überlegten, noch eine Wohnung im Haus anzumieten, auf die Schnelle herzurichten und als unsere gemeinsame auszugeben, das wäre vermutlich immer noch weniger arbeitsintensiv als die real existierende so weit aufzuräumen, dass man die Tante da bedenkenlos reinlassen konnen wird.

»Wir haben ja nicht mal einen Sterilisator für die Fläschchen!«, gab meine Freundin zu bedenken. Den hatten wir bislang für neumodischen Quatsch gehalten. Das Berliner Wasser ist sauber, einmal ordentlich spülen müsste da im Grunde auch reichen, dachten wir uns. Bekannte, denen wir das erzählten, guckten uns an, als würden wir unser Kind mit Abflusswasser ernähren.

Andererseits: Die Frau kam vom Jugendamt Wedding. Die sollte eigentlich einiges gewohnt sein. Vielleicht ist das ja auch nur so eine Sonderaktion als Reaktion auf die ganzen Spiegel-Artikel von wegen Ghetto und Verwahrlosung, dass die jetzt überall ihre Leute vorbeischicken. Und letztlich ist alles gar kein Problem. Weil die Menschen im Wedding gelassen sind. Wie neulich im Cittipoint. Morgens, cirka zehn Uhr. Ein offenkundig aktuell wie chronisch vom Alkohol Gezeichneter stellt eine Palette Kümmerlinge sowie ein Sixpack Schultheiss auf das Laufband. Beim Bezahlen bildet sich eine lange Schlange hinter ihm, denn er hat große Schwierigkeiten, das Kleingeld in seinem Portmonee richtig zu identifizieren und dann auch noch zu bergen, zumal er zwischendurch immer sehr mit Hin- und Herschwanken beschäftigt ist. Teilnahmslos stehen die Menschen hinter ihm und warten. Sofern es nicht selbst ihre volle Aufmerksamkeit erfordert, das Gleichgewicht zu halten, kennen sie das Problem offenbar aus eigener Anschauung hinreichend, um hier keine Unruhe aufkommen zu lassen. Schließlich gelingt der Zahlakt, der Mann nimmt seine Sachen, entfernt sich ein paar Schritte, ändert plötzlich die Richtung, schwankt zu den Verpackungstischen mit den Mülltrennungsboxen, stellt dort sorgfältig die erworbene Ware ab, um dann anschließend seinen Kopf über den Restmüll-Mülleimer zu halten und sich dort hinein zu erbrechen. Ich hätte ja auf Biotonne getippt, aber er wird schon wissen, was er getrunken hat.

Ich beobachtete den Vorfall von der Brottheke aus, wo die Verkäuferin attestierte: »Na, immerhin noch zur Tonne gegangen und nicht auf den Boden gekotzt, das ist doch nett.« Im Friedrichshain, ich bin sicher, hätte irgend so ein aus Westdeutschland zum Studium zugezogener Szenetrottel nach überreichlichem Cocktail- und Ecstasy-Genuss nachts zuvor einfach auf den Boden gekotzt und dann Jahre später, wenn er seine Ausbildung zum Produktliniendesigner oder Kommunikationsbetriebswirtschaftler beendet hätte und wieder in Karlsruhe oder Oldenburg wohnte, würde er seinen Kumpels über seine coole Zeit in Berlin-Friedrichshain berichten, als er ja noch ein ganz wilder Typ war, einmal, da habe er sogar einfach so in den Supermarkt gekotzt, Gott, was waren das Zeiten damals.

Dann ist mir ja doch der Weddinger Gewohnheitstrinker lieber. Bei dem ist man zumindest sicher, dass er mit seinem Erbrechen nirgendwo prahlen wird.

Realistisch betrachtet, Jugendamt hin oder her, sollten wir eigentlich nicht allzu viel zu befürchten haben. Um ganz sicherzugehen, haben wir sogar einen Sterilisator gekauft. »Schadet ja schließlich auch nichts«, haben wir uns gesagt.

Die Frau vom Amt war ausgesprochen nett. So ein rustikaler Typ; sie versorgte uns mit allerlei Tipps, an wen man sich wann und warum wenden kann. Dann hat sie ganz vorsichtig nach dem Stillen gefragt, weil, in den letzten Jahren, da gebe es ja so einen ideologischen Druck, wenn man nicht stille, dabei wäre das doch völlig in Ordnung. Wir haben sie gleich ins Herz geschlossen; dann aber doch noch gefragt, wie wir eigentlich zu der Ehre eines Hausbesuchs gekommen sind. Ob das eine Sondermaßnahme für den sozialen Brennpunkt Wedding sei? Sie guckte uns überrascht an. Nein, früher habe es das obligatorisch in ganz West-Berlin gegeben. Nur seien dann eben nach und nach die Mittel gestrichen worden, und immer mehr Bezirke hätten diesen Dienst eingestellt. Aber einige wenige hätten das halt beibehalten, weil es wichtig sei und sich bewährt habe.

Schau an. Wer hätte das gedacht. Das gute, alte West-Berlin. So war das damals. Da bekam noch jeder Bürger Besuch von seinem Sachbearbeiter vom Jugendamt. Um über alles zu sprechen. Dazu hat dieser ganze Neoliberalismus also schon geführt, dass man früher selbstverständliche Leistungen heute als krisenbedingte Sonderprogramme verdächtigt, weil man sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass der Staat einfach so für seine Bürger irgendetwas tut. Freundlich verabschiedeten wir uns. Beim Rausgehen erblickte die Dame vom Amt dann den Sterilisator, den wir extra in Pose gerückt hatten. »Wozu brauchen Sie den denn?«, fragte sie uns verblüfft, winkte dann aber kurz ab: »Na ja, schadet ja auch nichts.«