Volker Surmann: Serbokroatisch für Lernbereite

1.

Arbeitsämter sind immer unpersönliche graue Klötze. Doch das Arbeitsamt Berlin-Mitte in der Gotlindestraße 93 in Lichtenberg ist noch viel unpersönlicher, noch viel grauer und noch viel klötziger: Es ist ein monströses DDR-Plattenbaumonument und zudem ein geheimnisvolles Rätsel: Wieso ist das Arbeitsamt Berlin-Mitte im fernen Bezirk Lichtenberg?

Doch Geheimnisse haben hier Tradition. Bis zur Wende residierte hier die Stasi. Ich laufe durch den Hof auf den monströsen Gebäuderiegel zu. Kein Wunder, dass die Stasi so scheiße war. In so einem Klotz würde ich auch irgendwann paranoid gegenüber der zivilen Außenwelt.

Innen: Frisch getünchte Wände, stählerne Sitze, fahle Gesichter der Wartenden. Wie Gefangene sitzen sie hier, vor der Brust einen Zettel mit ihrer Nummer in den eingeschlafenen Händen. Ich bekomme meine Nummer und setze mich neben eine gleichfalls inhaftierte Topfpflanze. Sie wirkt deprimiert. Sehnsüchtig reckt sie sich zum Fenster und blickt mit verstaubten Blättern traurig aus dem siebten Stock in die Freiheit gen Westen. Wahrscheinlich so eine Ein-Euro-Grünpflanze; muss den Traum vom botanischen Garten im Arbeitsamt Gotlindestraße austräumen. Armes Ding. Ob in diesem Raum früher mal Stasi-Delinquenten auf ihre Verhöre gewartet haben? Eine Stimme reißt mich aus diesen Gedanken: »Herr Mielke, bitte!« Ein Herr Mielke steht auf und geht.

Kurz darauf stürmt ein Mann mit zotteligen Haaren ins Wartezimmer. Er trägt eine ramponierte Quetschkommode vor der Brust: »Hey, wir sind zwar arbeitslos, aber dadurch lassen wir uns unsere Würde nicht nehmen!« Erste Töne quälen sich schnarrend aus der roten Ziehharmonika. Würde ist sehr gut, denke ich, würde er spielen können, wäre das sehr gut. Hoffentlich wird der schnell vermittelt.

Nach zwanzig Minuten wiegt sich allein die Topfpflanze zur Musik – offensichtlich ein schwer hospitalisiertes Exemplar. Einige Wartende lehnen sich so geschickt an die Wand, dass sich ihre Ohren wie zufällig gegen Mantelärmel drücken. Jemand versucht, die zugeschlossenen Fenster aufzureißen; er will doch nicht etwa springen? Nein, er hofft wohl nur auf wohltuenden Verkehrslärm. Die Anderen machen gute Miene zum schlechten Spiel des Quetschkommunisten und wirken dabei alles andere als würdevoll. Ich ertappe mich dabei, wie ich mir ausmale, was die Stasi wohl mit einem wie ihm angestellt hätte.

Dann bin ich dran. Die Frau hinter dem Arbeitsamtsschalter studiert ihren Bildschirm: »Aber Sie haben doch studiert! Sie müssen zur Akademikervermittlung!«

2.

Im zehnten Stock, in der Leistungsabteilung für Akademiker: Lautlos schwingen vor mir zwei blitzsaubere Glastüren auf, in denen mit goldbestäubten, geschwungenen Lettern eingraviert ist: »Bundesagentur für Arbeit. Akademikervermittlung.« Drinnen ist es angenehm ruhig, leise Klassikmusik säuselt aus sorgsam verborgenen Lautsprechern. Cremefarbene Wände, indirekte Beleuchtung, geschmeidiges Licht. Meine Schuhsohlen umschmeichelt knöcheltiefe Auslegeware. An einem Tresen aus dunklem Nussbaumwurzelholz erwartet mich eine adrett gekleidete Hostess: »Guten Tag, wenn Sie bitte noch einen Moment warten möchten«, flötet sie und führt mich in eine Wartelounge. Ich lasse mich in eine der schweren Garnituren aus weich gegerbtem Kalbsleder fallen und nicke dem Gärtner zu, der gerade die Terrocotta-Kübel mit üppig gedüngten Benjamini wässert. Nach drei Minuten steckt die Hostess ihren Kopf in den Salon: »Verzeihung, aber wir müssen Ihre Geduld noch einen Moment länger strapazieren. Darf ich Ihnen einen Kaffee kredenzen?«

»Lieber einen schwarzen Tee, Darjeeling, ohne Zitrone aber mit Kandis und Sahne.«

Kurz darauf nippe ich beglückt an meinem Tee und blättere in einer der überall ausliegenden, in Schweinsleder gebundenen Ausgaben der Financial-Times.

3.

»Guten Tag. Mein Name ist Tanja Maahn. Wenn Sie mir bitte folgen mögen«, sagt meine Arbeitsvermittlerin und hilft mir aus dem Sessel.

Frau Maahn spricht sehr leise. Eigentlich spricht sie gar nicht, sondern kommuniziert über nur eine Mischung aus Lippenbewegung und Flachatmung: »Darf ich Sie höflichst fragen, was sind Sie von Beruf sind?«, atmet Frau Maahn.

»Ich habe gerade einen Abschluss in Linguistik gemacht.« Meine Sachbearbeiterin scheint daraufhin etwas zu sagen. »Entschuldigung, aber Linguist heißt nicht, dass ich Lippen lesen kann.«

»Verzeihung«, aspiriert Frau Maahn, »ich vergesse beim Sprechen manchmal das Atmen. Ich sagte soeben, ich habe hier eine Liste mit ihren Qualifikationsmerkmalen erstellt.«

Sie zieht einen Zettel aus dem Drucker des arbeitsamtlichen Großrechners. Darauf steht: »Aufsicht/Leitung, Computerlinguistik, Denkvermögen, Dolmetschen/Übersetzen, Fachliterarische Tätigkeit, Flexibilität, Kontaktfähigkeit, Lektorat, Lernbereitschaft, Lexikographie, Linguistik/Phonetik, Literaturwissenschaften, Philologie, Publizistik, Recherche/Informationsbeschaffung, Slawistik, Sprachliche Ausdrucksfähigkeit, Sprachwissenschaft.« – Klingt ganz nett, aber was hat das mit mir zu tun?

Einiges passt zu einem ausgebildeten Linguisten: Lektorat und sprachliche Ausdrucksfähigkeit zum Beispiel. Dankenswerterweise stellt die Bundesagentur für Arbeit fest, dass ich als Linguist besondere Kenntnisse in Linguistik besitze und überdies auch noch in Sprachwissenschaft. Schau einer an! Auf Computerlinguistik und Phonetik hätte ich mich spezialisieren können, hab ich aber nicht. Das ist wie mit Molekularbiologie, Humangenetik und Zoologie – alles irgendwie Biologie, aber eben auch nur irgendwie. Und so kritisch ich manchen Feldern der Humangenetik auch gegenüberstehe, hoffe ich dennoch inständig, dass sie von ausgebildeten Humangenetikern gemacht wird und nicht durch vom Arbeitsamt Berlin-Mitte vermittelte Ornithologen.

Ein Freund von mir, ein ausgebildeter Musiktherapeut, war kürzlich ohne Job, und das Arbeitsamt Tiergarten hat ihn gezwungen, sich bei einem heilpädagogischen Kindergarten zu bewerben, die einen Ergotherapeuten suchten. Die Erzieherinnen lachen heute noch. Ich sorge mich seitdem um unser Gesundheitssystem: Wie viele Psychotherapeuten sind in Wahrheit nur ausgebildete Physiotherapeuten oder angelernte Fußpfleger? Ist mein Urologe vielleicht nur Veterinärmediziner? Wie viele Poliere auf den Berliner Baustellen sind in Wahrheit nur ausgebildete Polen?

Einige Merkmale auf Frau Maahns Liste machen mir regelrecht Angst: Flexibilität, Lernbereitschaft, Dolmetschen/Übersetzung und Slawistik. Meine Lernbereitschaft ist nach 21 Semestern an der Uni deutlich erschlafft, Flexibilität wird immer dann gefordert, wenn es unangenehm wird, und die restlichen zwei Begriffe lassen mich befürchten, demnächst als Dolmetscher für Tschechisch und Serbokroatisch vermittelt zu werden.

»Ich will nicht serbokroatisch lernen!«, entfährt es mir. Diesmal ist es Frau Maahn, die mich nicht versteht.