Sandra Niermeyer: Abends

Wenn man abends in sein Zimmer kommt und ein Paar Füße unter dem umgestürzten Sofa hervorragen sieht, dann wundert man sich, denn man lebt allein. Vielleicht überlegt man eine Weile, wem die Füße gehören könnten, aber es fällt einem niemand ein. Nun bleibt einem nichts anderes übrig als nachzusehen. Hat man einmal den Entschluss gefasst, steht man vor einem Problem, denn das Sofa ist schwer und kann nur mit äußerster Kraftanstrengung vom Platz bewegt werden. Man geht ins Schlafzimmer und zieht sich etwas anderes an, denn in der feinen Bürobluse kann man sich kaum rühren. Die Ärmelnähte würden platzen, ehe man das Sofa einen Millimeter von der Stelle bewegt hätte. Kommt man dann mit einem bequemen Pullover ins Zimmer zurück, kniet man sich, einem plötzlichen Einfall folgend, neben den Schuhen nieder. Man beugt sich ganz weit hinab, legt den Kopf schräg und liest die Nummer auf der Schuhsohle. 46. Da es sich um Herrenschuhe handelt und 46 eine beachtliche Größe ist, nimmt man an, dass der Körper unter dem Sofa zu einem Mann gehört.

Das könnte einen in Sorge versetzen, wenn man eine Frau ist, aber nun kniet man einmal hier und kann seine Erkundungen fortsetzen. Eine leichte Drehung der Füße, man geht sehr vorsichtig dabei vor, zeigt, dass die Schuhe gut geputzt und von einer anerkannten Marke sind. Man ist sich nun sicher, keinen Landstreicher unter dem Sofa liegen zu haben. Man wird sogar direkt mutig und kneift in die Haut zwischen Ferse und Knöchel. Nun weiß man nicht, ob man erleichtert oder beunruhigt darüber sein soll, dass dieses Kneifen keine Reaktion hervorruft. Was hat man erwartet, ein Schreien, ein Stöhnen, ein ärgerliches »Lassen Sie das«? Man weiß es nicht.

Man erhebt sich von den Knien, die schon langsam zu schmerzen anfangen, und geht um das Sofa herum. Man überlegt, an welcher Seite es am besten anzufassen sei. Die beiden Armlehnen sehen vielversprechend aus und sind am leichtesten zu fassen. Wenn man an ihnen zieht, wird sich das Sofa höchstwahrscheinlich vom Platz bewegen. Kurz überlegt man noch, ob man vorher Abendbrot essen soll, um sich für diese Anstrengung zu stärken, aber man verwirft den Gedanken, weil man heute eh schon genug gegessen hat, und geht frisch ans Werk. Man zieht an der Lehne und hört das Sofa ächzen. Fast glaubt man schon die Lehne abzureißen, aber da gibt das Sofa plötzlich nach und hebt sich mit Schwung vom Boden. Damit hat man nicht gerechnet, man verliert das Gleichgewicht und taumelt zurück. Das Sofa lässt man dabei los und es kracht auf den Boden. Glücklicherweise an anderer Stelle als vorher.

Illustration: Flix

Der Körper liegt nun unbedeckt. Es ist ein großer und stattlicher Körper, aber das überrascht einen nicht, denn man kannte ja die Schuhgröße. Man tritt dem Körper ein paar Mal in die Seite und sagt: »hey!« oder auch: »he Sie!« Aber der Körper rührt sich nicht. Da man weiß, wie schwierig es ist, einen Menschen an seinem Hinterkopf zu erkennen, geht man um den Körper herum, um an der anderen Seite einen Blick auf das Gesicht zu werfen. Aber man stellt fest, dass das Gesicht auch dort nicht ist. Das Gesicht liegt auf dem Boden. Man kniet sich hin und rüttelt an der Schulter des Körpers. Der Kopf schlenkert hin und her, aber das Gesicht bleibt auf dem Boden. Man hat nun langsam genug von diesem Versteckspiel und greift dem Kopf in die Haare. Man reißt den Kopf mit einem Ruck hoch und wendet das Gesicht nah an das eigene Gesicht. Man stößt fast mit der Nase an die andere Nase. Dabei merkt man, dass man den Kopf so nah an sich heran hält, dass man gar nichts sehen kann. Man lockert den Griff ein wenig und lässt den Kopf zurückfallen. Nun kann man das Gesicht besser erkennen. Man stellt fest, dass man das Gesicht zwar erkennt, aber nicht kennt. Man verliert das Interesse. Man lässt den Haarschopf los und das Gesicht kracht auf den Boden zurück. Nun kann man genauso gut das Sofa wieder über den Körper schieben, denn dort, wo es jetzt liegt, versperrt es den Weg zur Tür. Man steht also auf und zerrt an der Armlehne. Das Zurückschieben geht leichter als das Wegziehen und man vermutet, schon in Übung zu sein. Das Sofa liegt nun wieder wie vorher über den Körper gekippt und nur die Füße ragen darunter hervor. Man hat so natürlich keinen Sitzplatz, um das abendliche Fernsehprogramm zu verfolgen, und ärgert sich, dass einfach ein Körper in der Wohnung liegt, der das Sofa für sich beansprucht. Man sieht sich im Raum nach einer anderen Sitzmöglichkeit um und dabei fällt der Blick auf den Vorhang. Nun ist der Vorhang natürlich kein Ort zum Sitzen, aber was die Aufmerksamkeit auf den Vorhang gelenkt hat, sind die Schuhe, die unter ihm hervor ragen. Man runzelt spielerisch die Stirn, erkennt aber auf den ersten Blick, dass es die gleichen Schuhe wie die unter dem Sofa sind. Dieses Mal fackelt man nicht lange und reißt den Vorhang zur Seite. Ein Körper fällt einem entgegen und man schiebt ihn mit einer Hand gegen die Wand zurück. Der Kopf hängt ein wenig schräg, aber man erkennt sofort, dass es das gleiche Gesicht wie das unter dem Sofa ist. Man sieht noch einmal zum Sofa hinüber, um festzustellen, ob der Körper von dort verschwunden ist und jetzt seinen Platz hinter dem Vorhang gefunden hat, aber die Schuhe liegen an Ort und Stelle. Man lehnt den Körper etwas stabiler gegen die Wand und sucht ihm ein paar Fusseln von der Brust. Dann lässt man den Vorhang zurückfallen und sagt sich, dass man sich damit nun wohl abfinden muss.