Jürgen Witte: Wahlfälschung

Ich stell mir vor, ich gehe in dieser Grundschule, im Klassenzimmer 311 an die Urne zum Wählen, ganz wie immer. Ich mache da meine Kreuze, guck nochmal auf den Zettel, ob ich das auch alles richtig gemacht habe, so wie ich es mir auf der Treppe in diesem stets renovierungsbedürftigen Schulhaus beim Hochkommen überlegt habe. Die schlechten Bilder der Malklassen an der Wand fallen mir ein, meine eigenen schlechten Bilder von früher: Fische in Wasserfarben? Die musste ich auch mal. Und dann werde ich plötzlich nervös, und aus lauter Angst, das Falsche gewählt zu haben, mache ich ganz schnell, ganz viele Kreuze auf den Zettel. Kleine Kreuze dahin, wo sie hingehören, aber auch größere Kreuze, wo sie so gar nicht vorgesehen sind. Ein ganz dickes Kreuz kommt über den Namen meines NPD-Direktkandidaten, zum Beispiel; warum mein NPD-Direktkandidat? Den habe ich doch nicht bestellt! Und zum Schluss, wo ich grade so schön in Fahrt bin, noch ein ganz großes Kreuz, quasi über den gesamten Wahlzettel. Jetzt könnte ich zwei der vier entstandenen Dreiecke noch schön schraffieren, denke ich. Dann kommt mein klarer Kopf wieder in Gang. Kann ich zu der Dame am Eingang zurückgehen und einfach sagen, ich bräuchte noch so einen Zettel? Wohl nicht.

Ich stehe in der Wahlkabine und schäme mich. So kann ich den Wahl­schein doch jetzt nicht mehr abgeben. Wie sieht das denn aus? Das ist ja wie damals in der Schule, wenn Lehrer plötzlich auf die Idee kamen, Hefte einzusammeln, Hefte mit Hausaufgaben, aber eben auch solche Hefte, die man über die vorangegangenen Wochen an vielen Stellen schön und auch weniger schön verziert hat. Ausgerechnet das Heft, wo mein fieser Tischnachbar mal meinen Namen vorn drauf durchgestrichen hat, und darunter dann Josefine Mutzenbacher draufgepinnt. Das Heft, wo man hinten eine Ecke einer Seite rausgerissen hatte, um darauf eine Nachricht an ein Mädchen niederzuschreiben, und den Ausriss dann durch die Reihen laufen ließ. Ich werde ganz nostalgisch. Tränen laufen mir über die Wangen, meine Jugend rührt mich total an. Grade jetzt, wo ich so erwachsen bin, und das alles schon beinahe vergessen hatte. Und dann schreibe ich mir zum Trost und Gedenken ganz groß Slade und Beatles hinten auf den Wahlzettel. In meiner schönsten, kindlichen Schrift, und dann verziere ich das Blatt noch mit ein paar Blumen und ein paar Piratenflaggen. Totenköpfe und gekreuzte Knochen kann ich immer noch ganz gut. Das hatte ich damals wochenlang geübt.

Illustration: Flix

So, jetzt ist es superpeinlich! So kann ich diesen Zettel keinesfalls mehr in die Urne werfen. Ich überlege, ob ich eine Ecke abreißen soll, und ob ich dann darauf eine Nachricht an die Wahlhelferin mit dem engen blassblauen Pulli hinter der Blechurne schreibe. Sie hat so eine niedliche Spange in den Haaren. Genau wie Christine Welsche damals. Die trug auch immer gerne diese dehnbaren Pullis über ihren antiquierten Zauberkreuz-BHs, wo der Busen dabei immer so unecht aussieht; so pyramidenförmig spitz. Wie die Frauen in den Versandhauskatalogen.

»Ich mag dich«, könnte ich der Wahlhelferin schreiben, sie sieht auch so aus wie eine Frau im Versandhauskatalog, so: »Ich bin wie ich bin, aber lieber wäre ich viel niedlicher!«, so sieht die aus. Ich könnte ihr also so was schreiben wie: »Magst du mich auch ein bisschen? Falls ja, dann könnten wir ja miteinander gehen.« Sie ist sicher Sachbearbeiterin im Bezirksamt, wahrscheinlich zuständig für die Liegenschaften. Ich hab einen Blick für so was. Sie könnte so eine Aufmunterung heute ganz bestimmt gebrauchen.

Ganz bestimmt wird sie lächeln, wenn sie das liest, aber ich hätte nichts davon, das wäre mir zu peinlich, ich würde mich sicher ganz schnell aus dem Wahllokal verziehen, noch bevor sie das Zettelchen auseinandergefaltet hat. Weil, ich würde das Zettelchen natürlich mindestens tausend Mal zusammenfalten. Sicher ist sicher.

»Wird’s bald, andere wollen auch noch« schreit einer, der darauf wartet hier hinter der Faltwand seine zwei ordentlichen Kreuzchen zu machen.

»Was iss, kannste dir nicht entscheiden?«, fragt eine andere Stimme, ich glaub das ist mein Hausmeister. Oh Gott, ist das peinlich.

»Bin gleich soweit!«, rufe ich, »das soll schließlich die nächsten vier Jahre halten, da muss man sich schon mal etwas Zeit lassen dürfen.«

Kann ich jetzt eigentlich, nachdem ich den Wahlzettel schon habe, dann doch nicht wählen? Den Zettel einfach einstecken und mit nach Hause nehmen? Das wollen die gar nicht gerne. Ich weiß das, ich hab mal einen der Zettel erbettelt, für eine Vorstellung an einem Wahlsonntag, und die haben einen totalen Aufstand gemacht. »Das geht doch nicht, wir riskieren damit doch, dass dann die ganze Wahl ungültig wird. Was wenn sie den Wahlzettel jemand anderem geben?« So einen Aufstand haben die gemacht. Schließlich hat einer, der Leiter des Wahlbüros, denke ich, so ein Schlipsträger, der hat seinen Kuli genommen und ganz fett »Muster« drauf geschrieben, und den Zettel durfte ich dann haben. Sehe mir meinen vollgemalten Zettel an und schreibe auch ganz groß »Muster« drauf. Aber meine Botschaft an die Wahlhelferin?

Jetzt hab ich den Zettel zerrissen. Jetzt ist das auf jeden Fall ungültig. Ob das einer von denen gehört hat? Ganz leise war das ja nicht abgegangen. Gleich schreit jemand vorwitzig: »He, was machen sie denn da!« Bereitschaftspolizei mit kugelsicheren Westen stürmt ins Wahllokal herein, in das Klassenzimmer der 7 B übrigens, Raum 311, es ist immer der Raum 311, und zerrt mich hinter dieser lächerlichen Faltwand hervor und ich kriege eine Anzeige wegen Verunglimpfung staalticher Symbole oder wegen Sachbeschädigung oder wegen Wahlfälschung. Ich fange an ziemlich zu schwitzen.

Draußen vor der Schule atme ich erst mal durch. Die werden Augen machen, wenn sie in meinem Umschlag heute Abend keinen Wahlzettel finden. Wahrscheinlich denken die, es sei ihr Fehler und sie hätten jetzt einen der Zettel verloren. Ein bisschen schäme ich mich aber auch. Ich habe mich dann doch nicht getraut, der süßen Wahlhelferin meine Liebesbotschaft zuzustecken. Es hat sich nichts geändert seit meiner Schulzeit. Wenn’s drauf ankommt, bin ich einfach immer noch viel zu schüchtern.

Jürgen Witte

Jürgen Witte (*1956 in Karlsruhe). 1979 Flucht nach Berlin (West). Vortragender Autor beim ›Frühschoppen‹ und in der ›Reformbühne‹. Salbader-Senioren-Redakteur, lebt in Steglitz und hat nur das alte Web 1.0.