Anselm Neft: Erleuchtet für einen Tag

Eines Morgens wachte ich auf und sah plötzlich klar. Alle Verwirrung war von mir abgefallen, aller Zweifel zerstreut. Kein Geheimnis zu Lande, zu Wasser oder in der Luft konnte mich noch zermürben. Offen lagen die Rätsel der menschlichen Art vor mir. Ich hatte das Zauberwort getroffen, das Sesamöffnedich zu den letzten Fragen des Universums, dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Alles, alles gründet sich auf eine Sache. Alles gründet sich auf die Gene.

Illustration: F.W. Bernstein

Ich wusste mit einem Schlag genau, wer ich war. Ein Mann. Chromosom Aktenzeichen XY. Ich konnte super einparken, aber beschissen zuhören. Ich mochte mit einem Mal Actionfilme. Ich konnte plötzlich nicht mehr weinen, nicht mehr über Gefühle reden. Ich wurde ein Mensch der Sachthemen. Technik faszinierte mich zutiefst. Ich war, das wurde mir bewusst, vom Mars. Mein Ziel auf Erden war es, meinen Samen möglichst weit zu streuen. Immer auf der Suche, immer in der Brunft. Während Frauen lernen, sich zum Sex zu zwingen, weil sie Liebe möchten, konnte ich als Mann mich zur Liebe zwingen, des Sexes wegen. Anders als Frauen konnte ich Sex und Liebe auch immer trennen. Es lag mir im Blut. Die Gene haben’s gemacht. Alles war so klar. Alles war so einfach. Ein Mann muss auf die Jagd. Er muss raus. Er muss kämpfen. Erobern. Eine Frau sehnt sich nach der Höhle, wo sie brüten kann. Schon die Neandertalerin verschönerte ihre Grotte nach besten Kräften. Der Nestbautrieb. Zu Hause fühlt die Frau sich wohl. Auf der Arbeit nur der Mann.

Es ist nicht lange her, da haben ein paar Hippies versucht, den Genen Hohn zu sprechen. Wie erbärmlich! Wie lächerlich ihr Scheitern. Aber jetzt, jetzt kommt alles wieder. Die Steinzeit lässt sich nun mal kein X für ein Y vormachen. Ein Mann muss stark sein. Eine Frau schön. Das sind die Grundlagen der Balz. Dazu der richtige Pheromon-Cocktail. Voila! Starke, proppere Nachkommen – das ist das Ziel der Evolution.

Der Vergewaltiger, der Fremdgeher – auch der steckt mir in den Genen. Zum Glück nicht so sehr wie dem Italiener oder Muselmanen. Vom Afrikaner ganz zu schweigen. Wo es heiß ist, sind die Gene besonders triebhaft. Dafür sind wir Nordmänner zur Mordlust disponiert. Das deutsche Tätervolk hat wetterbedingte Mördergene. Ich selbst spür es manchmal wild in mir zucken. Angst vor Fremden liegt uns im Erbe. Seit alters her zählt die Sippe, das Rudel, rottet sich der Mensch in Gruppen zusammen und unterwirft sich freudig dem Alphatier. Die Gene sinds, die Gene.

Ich fordere zur Verbreitung der Klarheit mit absoluter Entschlossenheit einen totalen Ausbau monokausaler naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle. Namentlich die biologische Disziplin der Genetik. Studiengebühren nur für Geisteswissenschaftler! Wozu brauchen wir Soziologie und Psychologie, wenn die Genetik doch alles erklärt? Was soll der Stuss mit den Politikwissenschaften? Wo kommen wir hin, wenn jeder bei der Staatsführung mitreden will? Geschichtswissenschaft: verkappte Dichtkunst. Raus! Und was soll Pädagogik taugen, wo doch eh beim Kinde weder Lob noch Schläge verfangen? Immer wird sich das Erbgut der Eltern Bahn brechen. Da frommt kein Steiner, Montessori oder Kückelhaus.

Das Kriegführen liegt uns in den Genen wie das Sammeln von Besitz und das Mehrhabenwollen. Der Kommunismus hat die Rechnung ohne die Gene gemacht und der Sozialismus war ein fauler Kompromiss, der nun gottlob sein Ende findet. Einzig der Kapitalismus in seiner freiesten Entfaltung wird dem Menschen gerecht. Die Gene sind’s. Die Gene. Die Gene sind’s, die dir zuraunen: Spotte über den Krankenpfleger wie über die Krankenschwester. Verlache Lehrer und Sozialarbeiter. Ihr Einkommen ist gering, Epsilon-Menschen, du weißt es wohl. Verneige dich vor dem Manager, dem Unternehmensberater, dem berühmten Sportler und Schauspieler, ganz gleich, was die Presse Böses hetzen mag. Denn diese Menschen tragen das Erbgut der Stärke und des Willens. Von der Natur sind sie erkoren, zu herrschen über die Siechenden und Minderwertigen. Wenn du’s vermagst: Paare dich mit ihnen. Züchte dich herauf! Verneige dich auch vor Jugend und Schönheit. Wer den Alten und Hässlichen nicht ins Gesicht lacht, heuchelt sich zu Tode und vergewaltigt die Natur. Die Gene: klar und unbestechlich, unabänderlich, konstant seit Jahrmillionen.

Als ich am nächsten Tag erwachte, war leider alles wieder wie weggeblasen. Ratlos und verwirrt taumelte ich durch die Welt wie eine Nuss, die versucht hat sich selbst zu knacken. Unverständliche Welt, voller Zeichen, die nicht zu mir sprechen wollten. Aber ich habe eine neue Ahnung: Die Neuronen sind’s, die die Welt erhellen. Die Neuronen, die Neuronen. Ach, was red ich? Atome! Halt, Quarks! Nein, Quanten! Strings. Chaos. Holismus. Welteis. Hohlwelt. Monaden vielmehr. Bionaden!

Nein, nein alles falsch. Gott ist die Antwort. Numen. Numen! Ich sag es euch! Buddhi Shakta Mukti Prakriti! Sternenstaub. Der Kitt des Alls! Die Rose im Kreuz, die Drei in der Eins. Der Stein der Weisen. Kether! Oder Elektrizität. Strom! Strom galore! Hirnstrom!