Jürgen Witte: Ultimative Menschen

Ich treffe ihn alle paar Monate mal, nachts zwischen zwölf und eins, dann ist seine Zeit, am Wochenende, da steht er irgendwo am S-Bahnhof Südende. Zu der nachtschlafenden Zeit ist das ansonsten längst schon eine menschenleere Gegend. Selbst beim Italiener an der Ecke, der schon ein Türke war, ein Böhme und was weiß ich noch alles, selbst dort sind die Lichter aus, nur der Bahnhof und die Bushaltestelle leuchten noch. Alle paar Minuten mal ein Auto, von Tempelhof nach Steglitz oder von Steglitz nach Tempelhof. Der Parkplatz vor dem neu entstandenen Lidl-Markt liegt öd und leer. Da steht er am Straßenrand, kraus-graue, fettig-strähnige Haare bis nahe den Schultern, immer latent unrasiert, immer mit einem Anzug, der schon leicht aus der Form ist, ein Habit, das was vom Leben gesehen hat und dabei gelitten haben muss.

Ein noch nicht ganz älterer Herr, also tatsächlich nicht viel älter als ich selbst, sichtlich angetrunken, immer, aber einen guten Rest an Stil hat er sich dennoch bewahrt. Nie fällt er aus der Rolle. Er schimpft nicht, er blökt nicht, ein Mensch, der auch nach einigem an Bier und Schnaps, geradeaus gehen und halbwegs zusammenhängend, durchaus vernünftig sprechen kann.

Manchmal warte ich dort an der Bushaltestelle mit ihm zusammen. Er erbettelt sich immer eine Zigarette, immer, und immer nur eine. Er erkennt mich niemals wieder. Manchmal denke ich, er tut das aus Höf­lichkeit, weil er diese Art aufdringlicher Verbrüderung als unschicklich empfände. Er spricht leise, leicht zischelnd, er presst seine Sätze zwischen kaum sich bewegenden Lippen hervor, und oft, ja fast immer wiederholt er das Gesagte zweimal, auch dreimal, ja, eine schöne laue Nacht sei das, sagt er, »schön lau, die Nacht, ja, wirklich angenehm, doch, eine rundweg schöne laue Nacht.«

Und nach solcherart meteorologischem Entree weiß er mir immer von den Geist sehr anregenden Dingen zu sprechen. Wenn auch die stets nur kurze verbleibende Zeit, natürlich auch aufgrund seines Hangs zur Wiederholung, kaum je genügen Raum lässt, angesprochene Themen wirklich zu vertiefen.

Einmal berichtete er, dass er auf den späten Bus warte, weil er auf dem Weg sei zur Shell-Tankstelle Bismarck-, Ecke Bergstraße. Man würde sich dort treffen, ein kleiner Kreis nur, öfter mal, und eben genau um diese Zeit, um diese nachmitternächtliche Stunde.

Es war mir, als spräche er von einem Zirkel würdiger Herren, die ab und an zusammentreten, die Probleme dieser Welt zu bereden. Nachts, wenn das gemeine Volk, vom Fernesehen und Naheliegendes Denken ermüdet, längst schon schläft, an einer Shell-Tankstelle.

Nie hat er auf angesprochene Themen, sei es die Politik, die Weiber, oder andere Angelegenheiten öffentlichen Interesses sich zu unqualifizierten Äußerungen oder den Latrinenparolen der omnipräsenten Berliner Schreihalspresse hinreißen lassen. Sein Akzent offenbart, dass er wohl aus westdeutschen Landen gebürtig sein muss. Nördliches Bayern, östliches Hessen, südliches Niedersachsen, würde ich tippen. Da, wo die Akzente sich verwischen. Womöglich ein Mensch, der diese Provinz und ihre weltananschauliche Enge bewusst verließ, um anderwärts geistige Freiheit zu gewinnen. Und ausgerechnet in Steglitz Südende gelandet. Dazu einer, der selbst bei geschätzten 2,5 Promille Stil und die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung der Weltdinge offenbart. Dass er des Alkohols wahrscheinlich bedarf, um so zu sein, steht auf einem anderen Blatt. Tagsüber habe ich ihn, obwohl ich selbst unweit wohne, niemals gesehen.

Manchmal aber, wenn ich die andere S-Bahn – nach Potsdam – erwischt habe und von der Gegenseite kommend nach Hause fahre, die besagte Shell Tankstelle passiere, halte ich unwillkürlich Ausschau nach ihm und seinen Kumpanen. Denn irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass nachts um eins, an dieser Tankstelle womöglich, geschart um einen Sechserträger Kindl oder Schultheiss, das intellektuelle Zentrum von Steglitz beheimatet sein könnte.

Jürgen Witte

Jürgen Witte (*1956 in Karlsruhe). 1979 Flucht nach Berlin (West). Vortragender Autor beim ›Frühschoppen‹ und in der ›Reformbühne‹. Salbader-Senioren-Redakteur, lebt in Steglitz und hat nur das alte Web 1.0.