Volker Surmann: Dieser Text wurde polizeilich angeordnet

Freitagabend, 21 Uhr 30. Die Polizeiwache Bielefeld Ost ist schummrig beleuchtet und unterbesetzt. Unwillkürlich tasten meine Blicke die Tür beim Eintreten nach Hinweisen auf Ladenschluss-Zeiten ab. Der diensthabende Beamte sitzt wie auf Stand-by. Als er sich mir zuwendet, vernehme ich deutlich das Knirschen seiner Halswirbel: »Ja?«

»Ich möchte eine Anzeige aufgeben!«

»Ja, dazu sind wir ja da«, seufzt der Mann, der sich als PHK Drümmel vorstellt, mit traurigem Timbre: »Ich hoffe, Sie haben etwas Zeit mitgebracht. Wir haben da nämlich so ein neues Computersystem – für 50 Millionen.«

Drümmel, ein sympathischer Endfünfziger mit grauem Haar und gutmütigem Opagesicht, seufzt erneut, als auf seinem PC das Signet ›PVP‹ des Polizei Vorgangsprogramms erscheint, murmelt wieder »50 Millionen« und macht sich tapfer ans Werk, meine Personendaten aufzunehmen.

»Früher«, hebt er an, »durften wir noch selbst schreiben, was passiert war, heute müssen wir nur noch Begriffe aus Listen auswählen.« Drümmels Stimme ist die eines verkannten Poeten und ich frage mich: ›Wenn die Polizei so gerne schreibt, wieso habe ich dann in meinem Leben noch keinen Polizisten gesehen, der mit mehr als zwei Fingern tippt?‹

»Woher kommen Sie?«

»Berlin.«

PHK Drümmel tippt »Berl*« ein, der Computer rechnet und schlägt vor: »Berlebeck, Berleburg, Berlichingen, Berlin, Berlingen, Berlingerode, Berlit und Berlstedt«.

»Wie hieß der Ort noch mal?«

»Berlin.«

»Straße?«

Der Computer kennt ›Strassmannstrasse‹ nicht, obwohl Drümmel ›Stra*‹, ›Straß*‹, ›Strass*‹, gar ›Strassmannstr*‹ eingibt.

»Sie sind sicher, dass es diese Straße gibt?«

»Ja.«

»Ganz sicher?«

»Ja.«

Drümmel guckt ratlos auf den Bildschirm. »Eigentlich sind aber da alle Straßen drin. Soll ich vielleicht doch mal bei Berlingen gucken?«

»Ich bin aber in Berlin polizeilich gemeldet.«

Eine Art Aufschluchzen folgt: »50 Millionen! Von den Bayern gekauft!«. Ich weiß nicht, was für Drümmel schlimmer ist: der Preis der Software oder dass die Millionen nach Bayern geflossen sind.

Erst als mein Freund und Helfer den Straßennamen voll ausschreibt, akzeptiert ihn die Software. 22 Uhr 15. Eine Dreiviertelstunde für meine Adresse, das kann ja heiter werden.

»Was ist denn nun passiert?«

»Ich bin in der Ravensberger Spinnerei aufgetreten, und der große Saal war unser Backstage-Bereich. Nach dem Auftritt blieb die Tasche mit den Bühnenutensilien dort. Als ich ne halbe Stunde später zurückkam, war die Tasche weg. Der Dieb hat ein paar Gegenstände rausgeräumt und darauf lag ein angebissenes Käsebrötchen.«

»Käsebrötchen?«, wiederholt PHK Drümmel verständnislos.

»Käsebrötchen«, verifiziere ich.

»Uff«, stößt Drümmel aus und schaut mit wachsender Verzweiflung auf den Bildschirm: »Na, dann wollen wir mal. Wo fand der Diebstahl statt?«

»Wie gesagt, im großen Saal.«

PHK Drümmel tippt »*aal*« in den PC und liest dann vor: »Ballsaal, Kinosaal, Konzertsaal, Speisesaal, Tanzsaal, Aalräucherei. – Großer Saal gibt’s nicht. Wie wär’s mit Konzertsaal?«

»Ich hab da 1998 schon mal ein Konzert der Ärzte…«

»Dann also Konzertsaal. – Was wurde geklaut?«

»Eine Sporttasche.«

»Ham wir nich.«

Drümmel gibt »*asch*« ein, die Software schlägt vor: »Handtasche, Fototasche, Computertasche, Taschenrechner, Aschenbecher.«

»Wie wäre es damit?« fragt PHK Drümmel und zeigt auf die Kategorie ›Reisekoffer/Reisetasche‹.

»Na ja, Koffer und Tasche sind doch recht unterschiedliche Dinge.«

»Ach, Sie haben ja so recht,« PHK Drümmel seufzt diesmal besonders tief, »dann schreiben wir eben unter ›Bemerkungen‹, dass es eine Sporttasche ist.«

Anschließend nimmt Drümmel auf, was in der Tasche war. Für jedes Detail muss er eine neue Eingabemaske aufrufen. Bald empfinde ich einen diebischen Spaß an der Liste der entwendeten Gegenstände und gebe selbst die unwichtigsten Dinge an, nur um zu sehen, was die polizeiliche Erfassungsware daraus macht: »Und dann war da noch mein Bühnen-Make-up drin, und der Dieb hat aus meinem Filofax etwa 50 Visitenkarten geklaut.«

PHK Drümmel schaut mich entgeistert an, fügt sich dann aber seinem Schicksal. Schweiß steht auf seiner Stirn. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um ihn.

Interessanterweise kennt das Polizei Vorgangsprogramm PVP ›Visitenkarte‹ als diebstahlträchtigen Begriff, nicht jedoch ›Make-up‹. Handtaschendiebe können sich also mindestens das Make-up straffrei einstecken.

Am Ende legt mir PHK Drümmel den Ausdruck meiner Anzeige vor: »Folgende Gegenstände wurden entwendet: 1) Bekleidung und Textilien. Bemerkungen: 1 x Jeans in blau. Typ: weit; 2) Bekleidung und Textilien. Bemerkungen: 1 x T-Shirt in grün mit weißer 6; 3) Elektro/elektronisches Gerät. Rasierapparat. Menge: 1. Hersteller: Braun; 4) Gebrauchs-/Verbrauchsartikel. Bemerkungen: Kompakt Make-up; 5) Reisekoffer/-tasche. Menge 1. Farbe: schwarz/grün. Hersteller Adidas. Bemerkungen 1 x Sporttasche; 6) Visitenkarte. Menge: 50. Bemerkungen: Von diversen Personen.«

»Das war alles?« PHK Drümmels Stimme klingt brüchig.

»Ja, den Rest hat der Dieb ja aus der Tasche rausgelegt, bevor er sie mitgenommen hat.«

»Und was für Gegenstände waren das?«

»Ein Stapel originalverpackter Bücher, ein Terminkalender, meine Fahrkarte und Proviant.«

»Haben Sie einen Verdacht?«

»Naja, ich vermute es handelt sich um einen wenig belesenen Mann, der dafür frisch rasiert ist. Vermutlich trägt er eine weite blaue Jeans, ein grünes T-Shirt und hat Make-up aufgetragen.«

Nun liegt die Ravensberger Spinnerei in Bielefeld inmitten eines Parks, in welchem sich viele Junkies aufhalten. »Das ist doch ein Ansatzpunkt!«, rufe ich aus, »können Ihre Kollegen auf Streife nicht mal nach meinen Sachen Ausschau halten? Und auf den eingeschweißten Büchern sind vielleicht Fingerabdrücke! Das angebissene Käsebrötchen enthält mit Sicherheit DNA-Spuren! Machen Sie noch heute einen Speicheltest bei allen Bielefelder Junkies!«

PHK Drümmel schaut mich mitleidig an. Der kriminalistische Geist in seinen Augen hat sich offenbar schlafen gelegt, vielleicht schon vor ein paar Jahren: »Die sind doch über alle Berge«. Ich gucke auf die Uhr: halb fünf, draußen dämmert es schon.

»Oh, das hat aber lange gedauert.«

»Mhm«, murmelt PHK Drümmel müde, »50 Millionen! Erzählen Sie das mal in Berlin! Die lachen sich doch tot! Erzählen Sie ruhig, wie das bei uns in NRW abgeht.«

Kann man einem Polizisten eine solche Bitte abschlagen?