Jochen Schmidt: Kinderkreuzzug

Die Kindheit war eine Klippe, die man umschiffen musste. Es gab keine Patentlösungen, wie man diese Zeit überleben konnte, aber als Faustregel galt, nie etwas herunterzuschlucken, nie etwas mit den Händen zu berühren und nie den Kopf durch etwas hindurchzustecken. Wenn man dann auch noch nie mit jemandem sprach, den man nicht kannte, und nie eine Straße überquerte, wenn man nie rannte und nie Softeis aß und Cola trank, stiegen die Chancen. Natürlich nur, sofern man sich von anderen Kindern fernhielt, denn die waren für jedes Kind die größte Gefahr.

Die wenigsten Kinder hatten es geschafft erwachsen zu werden, und von den anderen erzählte uns unsere Mutter. Es gab das Kind, das eine Raupe angefasst und sich anschließend die Augen gerieben hatte. Die Raupenhaare, an denen sich Widerhaken befanden, waren im Auge stecken geblieben, so dass das Kind erblindete. Jetzt lebte es im Heim, zusammen mit den Kindern, die mit der Taschenlampe im Bett gelesen hatten, mit denen, die immer zu nah am Fernseher gesessen hatten und mit den Kindern, deren Augen beim Schielen stehen geblieben waren. Und jeden Winter kamen neue Kinder ins Heim, Opfer von Schneeballschlachten, denen kleine Kiesel, die sich im Schnee versteckten, ein Auge ausgeschlagen hatten.

Ein anderes Kind hatte eine Taubenfeder angefasst, obwohl es doch wusste, dass nur kranke Vögel Federn verlieren. Davon war das Kind krank im Kopf geworden. Andere Kinder hatten zu viele Süßigkeiten gegessen und bekamen für den Rest ihres Lebens täglich eine Spritze. Ich erfuhr davon, als wir am Rügener Heim für zuckerkranke Kinder vorbeigingen, aus dem die Schreie der Kinder nach draußen drangen, denen gerade ihre tägliche Spritze ins Fleisch gerammt wurde. Aber im Grunde hatten sie es noch gut getroffen, besser jedenfalls als das Kind, das in der Badewanne aufgestanden und ausgerutscht war und das jetzt im Rollstuhl saß, es wäre froh gewesen, etwas von der Spritze zu spüren. Wobei auch dieses Kind Glück im Unglück hatte, es konnte immerhin noch die Arme bewegen, nicht wie das Kind, das beim Baden einen Kopfsprung gemacht hatte und auf dem Grund aufgeschlagen war. Dieses Kind konnte nicht mal mehr ein Kopfnicken erwidern. Aber immerhin hatte es ja den Sprung überlebt, anders als die Kinder, die nach dem Essen ohne eine halbe Stunde zu warten hinausschwammen, einen Krampf bekamen und ertranken. Aber selbst deren Unglück hatte sein Gutes, kamen sie doch auf elegante Weise um die lästige Pflicht, ihre nassen Badehosen zu wechseln, um keine chronische Blasenentzündung zu riskieren.

Manche Kinder waren mit einem blauen Auge davongekommen, eine riesige Tetanusspritze konnte das Kind, das sich an rostigem Eisen verletzt hatte, zurück ins Leben holen. Und das Kind, das Kirschkerne verschluckt hatte, die ihm den Blinddarm verstopften, war erfolgreich operiert worden. Bei dem Kind, das sich einen Splitter eingezogen hatte, war dagegen jede Hilfe zu spät gekommen, der Finger hatte sich entzündet und amputiert werden müssen.

Nachts sah ich die Kinder vor mir, die im Bett mit Schnüren gespielt und sich im Schlaf selbst erdrosselt hatten. Andere waren mit einer Tüte über dem Kopf erstickt oder beim Graben von Tunneln im Sandkasten verschüttet worden. Erst wenn ein anderes Kind an einem verdächtigen Stück Metall zog, das seit dem Krieg aus dem Boden ragte, und alles in die Luft flog, kamen manche der verschütteten Kinder wieder zum Vorschein.

Es gab aber auch Kinder, die für immer spurlos verschwanden, weil sie im Winter irgendwo unterwegs mit der Zunge an einem Eisengeländer geleckt hatten. Bevor sie gefunden wurden, waren sie schon erfroren, einsam und verlassen, niemand stand ihnen in ihrem Unglück zur Seite, nur das Kind, das am Tag vorher den Kopf durch einen Zaun gesteckt und wegen der Ohren nicht mehr herausbekommen hatte, war zufällig in der Nähe. So konnte das Kind, das mit dem Kopf festhing, dem Kind, das mit der Zunge festklebte, zum Trost Geschichten von Kindern erzählen, denen es schlechter ging, als ihnen beiden. Natürlich vor allem die Geschichte von dem Kind, das beim Frühstück das Messer abgeleckt hatte und seither viel darum gegeben hätte, noch einmal irgendwo mit der Zunge festzukleben.