Jürgen Witte: Lächeln II

Passfotos machen lassen, immer diese Quälerei.

»Nicht so viel lächeln, bitte nicht lächeln!«, ruft der Fotograf »und ganz knapp an der Kamera vorbeigucken. Jetzt lächeln Sie doch nicht so doof. Nicht zum Schirm gucken, das war früher, Halbprofil, sehen Sie doch einfach zu mir her, knapp neben das Objektiv, da am Gehäuse, da ist so ein Punkt, und bitte, hören Sie endlich auf so penetrant zu lächeln!«

Ich mache mein erstes Passfotoshooting nach Otto Schily, für heute Mittag habe ich einen Termin bekommen, und ich muss zugeben, es ist nicht einfacher geworden.

Nicht-Lächeln auf Befehl ist wider Erwarten genauso schwierig wie früher das Lächeln auf Befehl. Aber seit November 2005 darf auf Passfotos nicht mehr gelächelt werden. Weil: Lächeln verfälscht die Biometriedaten des Gesichts. Wer lächelt, bescheißt die Polizei. Wir sollen auf unseren Passfotos endlich so scheiße aussehen wie sonst auch immer.

»Also wenn sie jetzt nur noch stur und griesgrämig geradeaus in die Kamera sehen, dann mach ich das so. Schön ist das nicht, aber da haben die Computer beim Identifizieren dann immer leichtes Spiel.«

Mein Fotograf ist genervt. Alle Portraitfotografen Deutschlands sind schwer genervt. Natürlich ist damals ein Kleinkrieg zwischen den Behörden und den Fotografen ausgebrochen. Der Polizeistaat hätte jetzt gerne plump frontale Verbrecherfotos, damit seine Computer unsere Gesichter besser vergleichen können, aber der Fachverband der Fotografen hat gesagt, wenn sie jetzt auch so’n Müll produzieren sollen wie die Amateure, die die Verbrecherfotos machen, dann können sie ihren Job gleich an den Nagel hängen. Also bemüht sich die Zunft der ausgebildeten Lichtbildner seither – im Rahmen des Erlaubten, aber immer hart an der Grenze – ihre ästhetischen Grundsätze zu verteidigen. Schöne Bilder von griesgrämigen Dutzend-Gesichtern. Dafür erhielten aber auch ein Monopol: Man muss sein Passbilder bei einem staatlich lizensierten Fotostudio machen lassen. Die haben jetzt alle so einen Schrieb mit Stempel im Schaufenster kleben.

»Grade haben Sie…, da haben Sie so ganz leicht, nur angedeutet, total hintergründig gelächelt. Quasi nix davon zu sehen. Das wäre ideal gewesen. Das habe ich jetzt aber leider verpasst. Also nochmal! Nein, bitte, nicht wieder so fett lächeln. Das wissen Sie doch. Solche Bilder nimmt der Fahndungs-Computer nicht.«

In jedem Lizenz-Porträtstudio steht jetzt ein Scanner vom BKA. Jedes Bild wird dort gleich getestet. Ob da auch ja nicht zuviel gelächelt wird. Und das dauert, bis die BKA-Software ein Bild akzeptiert. Die Durchfallrate liegt um die 95 Prozent. Und ohne das Testsiegel auf dem Bild gibt es keinen Pass. Passbilder machen kann Stunden dauern und teuer ist es auch. Dafür heißt es jetzt Shooting. Jeder Bürger ein kleiner Pop-Star.

Nach zwei Stunden, fünfundvierzig Minuten, also 275 Euro ärmer, hab ich endlich mein Bild. Aber was heißt hier haben? Ich weiß schon nicht mehr, wie es aussieht. Das wurde sofort online an die Passstelle gemailt. Ich gehe raus auf die Straße und gerade will ich fluchen, über diese verdammten neuen Reglungen, diese Schikane, diese unverschämte Beutelschneiderei des Fotografenkartells, da empfangen mich auf dem Gehweg lauter breit lächelnde Gesichter.

Ja, man muss es zugeben, Otto Schily und sein Nachfolger, die allgegenwärtigen Überwachungskameras und die dummen Biometrie-Computer haben aus Deutschland binnen weniger Monate ein anderes Land gemacht. Ganz viele Leute lächeln jetzt. Quasi alle, ständig ohne Unterlass. Auch in Berlin. Auf der Straße, auf dem Gehweg, in Bussen und U-Bahnen, einfach überall. Man will eben nicht immer gleich vom jeder Überwachungskamera erkannt werden. Lächeln verfälscht die gespeicherten Biometriedaten. Wer lächelt, hat die besten Chancen, nicht immer sofort identifiziert zu werden.

Lächeln ist plötzlich total subversiv, Grinsen ist ziviler Ungehorsam. Ausgerechnet die griesgrämigen Autonomen haben damit angefangen, wie damals die Sache mit der Revolution am 1. Mai, nur diesmal, beim Lächeln, machen tatsächlich fast alle mit.

Das ist schon nett, wenn man sich ständig so verschwörerisch anlächelt. Man fühlt sich plötzlich viel wohler in der Stadt. Man hält wieder zusammen gegen die da oben. Wer jetzt noch griesgrämig auf die Straße geht, das ist einer von denen, die immer meinen, dass sie nix zu verstecken hätten. So viele davon scheint es nicht mehr zu geben. Das öffentliche Leben hat ringsum sein Sonntagsgesicht aufgesetzt. Gut, manch falsches Zahnreihencheese ist auch schon mit dabei: »Der hat doch dieses Schwerverbrechergrinsen«, denkt man bei vielen Leuten, die einem jetzt so begegnen, aber weiß man’s? Es gibt Lächelschulen mit extra Kursen, und manchmal wird da wirklich übertrieben. Äußerlich sehen wir jetzt zumindest alle ziemlich nett aus. Dass hier in Deutschland die Stimmung so gestiegen ist, das haben wir nicht der neuen Regierung zu verdanken, das ist alles das Werk des BKA. Den Friedensnobelpreis sollte man ihnen verleihen.

Natürlich gibt es auch einige, die wieder was zu unken haben. Sie sagen, was für ein Gesicht die Leute aufsetzen, wenn sie abends heimkommen und die Tür ihrer Wohnung hinter sich zuschlagen, das kann doch keiner wissen! Das gemeinsame Wohnen, sagen die schärfsten Überwachungskritiker, das Zusammenleben von Menschen innerhalb der privaten vier Wände könnte sich schon bald zum Unfallrisiko Nummer eins entwickeln. Aber es gibt in Berlin bald ohnehin nur noch Singlehaushalte. Diese Privatfressen, die die Leute zu Hause aufsetzen, die kann doch auf Dauer keiner ertragen.

Jürgen Witte

Jürgen Witte (*1956 in Karlsruhe). 1979 Flucht nach Berlin (West). Vortragender Autor beim ›Frühschoppen‹ und in der ›Reformbühne‹. Salbader-Senioren-Redakteur, lebt in Steglitz und hat nur das alte Web 1.0.