Andreas Scheffler: Scheiße im Gesicht

Richter Ulrich Wetzel, Barbara Salesch, Alexander Hold, Richterin Ruth Herz. Wieder mal das volle Programm. Um fünf Uhr in der Nacht falle ich total erledigt ins Bett. Wem ich von meinen Fernsehgewohnheiten erzähle, der packt sich an den Kopf. Aber ich könnte mittlerweile jederzeit mein juristisches Staatsexamen abliefern. »Sie müssen nichts sagen, mit dem Sie sich selbst belasten könnten, aber wenn Sie etwas sagen, muss es auch der Wahrheit entsprechen. Paragraph 50.« Ich habe nicht die Absicht, Jurist zu werden, aber wenn ich einmal straffällig werden sollte, weiß ich, was ich zu erwarten habe. Ich weiß, wann eine Körperverletzung zur gefährlichen wird, ab wann eine Äußerung zur Beleidigung wird und wie eine Tat im Affekt zu beurteilen ist.

Für diesen Tag also habe ich meine Weiterbildung abgeleistet, falle ins Bett und wache am nächsten Morgen um 14 Uhr mit mattem Schädel auf. Ich fühle mich wie gerädert. Für den Abend bin ich zu einer Art Poetry-Slam eingeladen worden. Ich schlage im Langenscheid noch mal nach, was ›slam‹ überhaupt bedeutet. Da steht ›Zuschlagen‹ und ›Knall‹. Na, das kann ja was werden. Ein Knall mit Literatur. Und das soll auch noch in Charlottenburg stattfinden. Freunde von mir haben da schon mal mitgemacht und empfohlen, dass da Geschichten über Saufen und Ficken besonders goutiert werden. Gut, Texte über’s Saufen habe ich jede Menge, auch der Geschlechtsverkehr wird gelegentlich thematisiert, aber es kommt meistens nicht dazu.

Eigentlich kann ich Wettstreits auch nicht leiden. Leistung öffentlich zeigen, ist mir zuwider. Das war schon früher bei den Bundesjugendspielen so. Ich hab mich gern mit dem bronzenen oder silbernen Sportabzeichen zufrieden gegeben. Ich hab nie was dagegen gehabt, Zweiter zu sein. Warum soll ich schnell rennen können? Schnell rennen muss man nur, um vor jemandem wegzulaufen. Muss ich nicht. Meine Siegerurkunden, Ehrenurkunden und Anstecknadeln hat meine Mutter irgendwo in einer Schublade zusammen mit meinen Schulzeugnissen von der ersten bis zur dreizehnten Klasse aufbewahrt. Kann sie gern behalten.

Illustration: F.W. Bernstein

Nun gut, am Abend ist also so’n blöder Slam. Aber davon lasse ich mir meine schlechte Laune nicht vermiesen. Im Gegenteil: Ich beschließe, gute Laune herbeizuführen. Also gehe ich zum Kaiser’s um die Ecke, kaufe Bier für mich und frisches Hackfleisch für die Katzen; und an der Kasse flirte ich mit meiner Lieblingskassiererin, die mir daraufhin jede Menge Treueherzen zusteckt. Wie in meinen Texten kommt es zum Geschlechtsverkehr meistens nicht. Genau genommen nie. Das kann meine inzwischen gute Laune nicht schmälern, denn – gehen wir doch mal ganz tief mit uns zu Rate – Sex ist auch nicht alles.

Zuhause mache ich mir ein Bier auf und schleime mich mit dem Hack bei den Katzen ein. Bald wird es Abend. Ich suche einige Sauftexte heraus und mache mich auf den Weg zur U-Bahn.

Normalerweise, wenn ich Straßen entlanggehe, halte ich den Blick gesenkt und schaue ernst wie die meisten Berliner, die schlechte Erfahrungen mit Hundehaufen gemacht haben. Heute aber, das nehme ich mir vor, gucke ich mir meine Umgebung fröhlich an. Lächeln! Etwas Positives ausstrahlen! Nicht immer mit heruntergezogenen Mundwinkeln herumlaufen! Sonst vermerkelt man noch. Auch wenn die Merkel inzwischen als Grinsekuh herumläuft. Vermutlich hat ihr Udo Walz die Wangenhaut nach oben geschoben und hinter den Ohren festgetackert. Nein von Angela Merkel und Udo Walz lasse ich mir die gute Laune nicht versauen. Ich gehe erhobenen Hauptes den Weg zur Bahn und lächele jeden Menschen, der mir entgegen kommt, freundlich an, auch auf die Gefahr hin, für einen Idioten gehalten zu werden. Gerade in Berlin ist es gefährlich, in der Öffentlichkeit fröhlich zu sein, aber dieses Risiko gehe ich ein. Die meisten Leute, die mir entgegen kommen, sehen kurz auf und gehen dann schnell weiter. Einzelne lächeln zurück. Das reicht mir schon. Das war schon früher so. Wenn ich morgens mit der U-Bahn zur Uni fuhr und auf dem Sitz gegenüber eine Frau aufsah und wir uns anlächelten – einfach so – dann hatte der Tag gut begonnen. Da wurde der Geschlechtsverkehr zwar gedanklich thematisiert, aber es ist nie dazu gekommen.

Jetzt betrete ich den U-Bahnhof Bernauer Straße und sehe alle mir entgegen kommenden freundlich an. Zwei junge Männer bleiben stehen. Einer schreit mich an: »Hab ich Scheiße im Gesicht? Ey, Alter!« - Was soll ich dazu sagen? Ich gehe wortlos weiter. Der junge Türke, etwa 17 Jahre alt, bellt mir hinterher: »Ha? Hab ich Scheiße im Gesicht?«

So, das war’s dann mit der guten Laune. Ich werde sauer, aber bleibe ruhig. »Nee, ich kann da nichts sehen. Aber ich würd’ mich nicht wundern, wenn da im Kopf ’ne Menge wäre.«

Er wird ungehalten, hysterisch und fühlt sich religiös motiviert. »Scheiße im Kopf? Du hast Scheiße im Kopf, Alter!« Er kommt ein paar Schritte auf mich zu. Sein Kollege hält ihn am Arm. Ich sage nichts weiter und gehe den Bahnsteig entlang. Wenn er mir jetzt nachliefe und mir eins in die Fresse geben würde, glaube ich, hätte ich bei dem Poetry-Slam richtig gute Chancen. Mit herausgeschlagenen Zähnen eine Geschichte über’s Saufen erzählen, ’ne kleine Vögelei könnte ich schnell noch reinschreiben, da würde ich glatt gewinnen. Aber der Jungtürke geht nicht zum Äußersten.

Beim Slam erzählt ein Kollege, wie er sich den Körper rasiert, dabei massenhaft Blut fließt, sich seine Brustwarzen wie Spargelstangen aufrichten, als er mit dem Rasiermesser an seine Eichel geht, wie sich das ganze orgiastisch auflöst. – Dagegen kann ich nicht anstinken. Ich habe nichts dagegen, Zweiter zu sein, und von mir aus auch mal Dritter.