Lillebjörn: An Bord der Otto Ebsen

Der Vorfall, von dem ich berichte, liegt ungefähr 30 Jahre zurück. Ich vermute, die meisten Details hätten nicht wieder aus der Tiefe meines Gedächtnisses auftauchen können, handelte es sich nicht um die peinlichste Angelegenheit meiner Kindheit.

»An Bord der Otto Ebsen« war vielleicht schon der fünfzigste Seefahrerroman, den ich aus der öffentlichen Bibliothek ausgeliehen hatte. Immer noch liebte ich diese Geschichten, ob mit Piraten oder ohne, und immer noch faszinierten mich die Illustrationen. Besonders prächtig waren sie in diesem Buch; je länger ich darin blätterte, desto weniger ertrug ich den Gedanken, dass es wieder in die Bibliothek zurück sollte und mit ihm Seite 93, auf der der Viermaster Otto Ebsen unter vollen Segeln abgebildet war.

Noch bevor ich die Seite herausriss, erkannte ich natürlich das Problem. Seite 94 war mit Text bedruckt, der dann ebenso fehlen würde wie das Bild, aber das Fehlen des Textes wäre auffälliger. Unten auf Seite 92 angelangt, würde der nächste Entleiher lesen:

»Kapitän Backbart ließ die Rahsegel setzen. ›Kurs auf…‹«

und auf Seite 95 ginge es dann weiter mit:

»…lag über den Schultern von Jungfer Martje und schützte sie vor dem kalten Nordwind.«

Nein, das ging nicht zusammen. Mein erster Gedanke war, die letzten Wörter von Seite 92 zu streichen, so dass sich wieder ein sinnvoller Satz ergäbe:

»Kapitän Backbart lag über den Schultern von Jungfer Martje und schützte sie vor dem kalten Nordwind.«

Das passte zum guten Kern, der sich unter der rauen Schale von Kapitän Backbart verbarg, aber ich hatte keine Idee, wie ich die überzähligen Wörter wirklich spurlos verschwinden lassen könnte. Also suchte und fand ich eine andere Möglichkeit: Ich fügte einfach etwas hinzu. Oben auf Seite 95, mit einem schwarzen Kugelschreiber so gut wie eben möglich die gedruckte Schrift nachahmend, ergänzte ich nach reiflicher Überlegung zwei Zeilen:

»Kapitän Backbart ließ die Rahsegel setzen. ›Kurs auf Madrid!‹ rief er. Da fiel eines der Rahsegel herunter. Es lag über den Schultern von Jungfer Martje und schützte sie vor dem kalten Nordwind.«

Das herausgerissene Blatt versteckte ich zu Hause zwischen den Seiten der Märchen aus 1001 Nacht, wo es nie gefunden wurde.

Als meine Buchschändung aufflog, kam die Bibliothekarin nicht auf die Idee, die fehlende herausgerissene Seite zurückzufordern, sie ließ sich von meinen entsetzten Eltern gleich das ganze Buch ersetzen.

Ich mied fortan diese Bibliothek und habe nie wieder eine Seefahrergeschichte in der Hand gehabt. Die Märchen aus 1001 Nacht konnte ich ohnehin nicht besonders gut leiden, und so geriet der Verbleib der verhängnisvollen Buchseite in Vergessenheit. Dabei hätte es bleiben können, wären nicht zwei seltsame Zufälle zusammengekommen. Denn ein Zufall ist es, dass die Märchen aus 1001 Nacht mir bei all meinen Umzügen die Treue hielten, während sich einmal sogar eines meiner Lieblingsbücher, es enthielt vier Hörspiele von Günter Eich, aus dem Staub machte. Und ein Zufall ist es auch, dass aus dem Kneipengeschwätz, das sich gestern Abend zwischen Bernd und mir entspann, eine Meinungsverschiedenheit wurde, die nichts anderes zum Gegenstand hatte als die Frage, ob es »Schehezerade« heiße oder »Scheherezade«.

Ein vom Alkohol angestachelter dickköpfiger Ehrgeiz hielt mich davon ab, mir allenfalls noch Zeit zu nehmen, eine Aspirintablette aus ihrer Packung herauszuoperieren, um dann gleich ins Bett zu gehen, nein, ich musste in den Märchen aus 1001 Nacht herumblättern und den Triumph auskosten: »Scheherezade«, ha!, aber es war ein kurzer Triumph, denn das Blatt mit dem Segelschiff fiel heraus.

Alkohol mag das Schamgefühl beeinträchtigen, aber so viel hatte ich nun auch wieder nicht getrunken, ja ich glaube, noch im Vollrausch hätte diese schlecht gedruckte Federzeichnung mir eine reflexhafte Röte ins Gesicht gejagt. »Du Vollidiot«, beschimpfte ich mein armes zehnjähriges Ich, das sich nicht mehr wehren konnte. Ich weiß nicht mehr, wie diese Buchseite dann in die Waschmaschine geraten war, wo ich sie heute entdeckte, auch nicht mehr, wie ich ins Bett gekommen bin und wie auf das Schiff.

Mit dem Rücken gegen eine Kiste gelehnt sitze ich an Bord der Otto Ebsen. Rundum Wasser, nichts als Wasser; die Sonne brennt mir schon lange auf den Kopf. Ich bin zu träge, um gegen die Kopfschmerzen etwas zu unternehmen. Am liebsten würde ich eine Hand ins kühle Wasser halten und überhaupt näher am Wasser sein, aber das Deck liegt viel zu hoch. An Lesen ist in diesem Zustand nicht zu denken. Habe ich überhaupt ein Buch bei mir? Weiß ich gar nicht.

Plötzlich steht Kapitän Backbart vor mir. »He, du Faulpelz, willst du wohl die Gaffelböke bröger klametern?«

»Hä?« – Verständnislos starre ich den Kapitän an.

»Ja oder glaubst du, das macht der Klabautermann für dich? Nu mal los über die Backbordgraköge und rauf auf die Trusswedderschelge!«

»Tut mir leid, aber ich weiß gar nicht…«

»Ja wie zum Donnerwetter kommst du denn an Bord, wenn du kein Matrose bist? Ab in die Kombüse und Kartoffeln schälen. Oder weißt du etwa auch nicht, was ne Kombüse ist?«

Nach fünf Stunden Kartoffelschälen ist die Sonne untergegangen. An Bord ist alles ruhig. Mit dem Schälmesser kappe ich ein paar Taue und lasse das Rettungsboot ins Wasser gleiten.

Die Otto Ebsen ist fern. Ich liege auf dem Bauch, die linke Hand plätschert im Wasser.

Illustration von CX Huth