Stephan Zeisig: Neurodermitis

»So, liebe Schüler, heute sprechen wir über ein Thema, dass ich für sehr wichtig halte: chronische Krankheiten. Immer mehr Jugendliche sind ja davon betroffen. Zunächst soll es um Neurodermitis gehen, eine chronische Hautentzündung, bei der man sich dauernd kratzen muss. Viele finden das eklig. Judith, Du hast das ja selber, erzähl mal, wie das so ist.«

Biolehrer Kracht hatte sich spontan entschieden, eine Einheit zu chronischen Krankheiten einzuschieben, nachdem er von Frau Feller, der Klassenlehrerin, von Judiths Leiden erfahren hatte. Aufklärung war alles. Nur so würde es für Judith möglich sein, innerhalb der Klasse ein normales Leben zu führen und von ihren Mitschülern akzeptiert zu werden. Er hatte natürlich nicht so viel Ahnung von dieser Krankheit. Es war besser, Betroffene berichten zu lassen. Würde Judith ihre Sache gut machen, würde er ihre Schilderung als Referat werten. Es war doch schön, wenn einem seine Krankheiten auch noch gute Noten einbrachten.

»Na, Judith? Mal los! Nicht so maulfaul! Manche denken ja, diese Krankheit kommt davon, dass man sich nicht so oft wäscht. Wie ist das bei Dir? Wäschst Du dich? Ich hab gehört, eher nicht so oft.« Mit dieser frechen Bemerkung musste er sie eigentlich aus der Reserve locken können. Das würde sie doch wohl nicht unwidersprochen stehen lassen. Ließ sie doch. Sie schwieg weiterhin, ihre Lippen zitterten.

»Weißt Du nicht, womit Du anfangen sollst? Erzähl doch einfach zunächst mal, was die Vorteile von Neurodermitis sind. Jede Sache hat ja auch ihre gute Seite, zum Beispiel ist man häufiger krank geschrieben.« Das mit der Krankschreibung hatte er trotz seiner Prinzipien erwähnt, nur, um ihr die Scheu zu nehmen und ihr eine Brücke zu bauen.

Hach, mit diesen Teenager-mädchen war das wirklich schwierig. Das war die Pubertät. Am schlimmsten waren die mit den Essstörungen. Vor zehn Jahren hatte er dieses Problem noch ignoriert, bis er gelesen hatte, dass sowas im schlimmsten Fall sogar zum Tod führen können. Das wollte er nicht verantworten. Seitdem hatte er jedes Jahr in der ersten Stunde seine Klassen gefragt: »Ist eine von euch magersüchtig? Wenn ja, bitte melden.« Natürlich hatte das keine gemacht, obwohl statistisch 30 Prozent der Mädchen betroffen waren. Er hatte gedroht: »Also, bevor nicht mindestens fünf der Mädchen Essstörungen zugegeben haben, fange ich nicht an und wir machen danach länger.«

Er hatte umsonst gedroht. Nachdem er von einem Kumpel gehört hatte, dass bei Magersucht die Regel ausblieb, war er auf den Klassenfahrten heimlich in die Zimmer der Mädchen geschlichen und hatte in den Papierkörben nach benutzten Tampons oder Binden geschaut. Die Mädchen, die keine vorweisen konnten, waren überführt. Er hatte die betroffenen Schülerinnen nicht zur Rede gestellt, sondern die männlichen Schüler der Klasse informiert und diese aufgefordert, bei der abschließenden Klassenfahrtdisko nacheinander zu den magersüchtigen Schülerinnen zu gehen und folgende Worte zu sagen: »Ich tanze erst mit Dir, wenn Du zwanzig Kilo zugenommen hast. So dünn siehst Du voll scheiße aus.« Leider hatte er die meisten Mädchen aus den Augen verloren. Er wusste bis heute nicht, wie hoch die Erfolgsquote seiner Therapie war.

Judith standen die Tränen in den Augen. Nein. Hier musste er anders vorgehen. Genau die gegenteilige Strategie war notwendig: »Ich nehme an, Judith, Dir ist deine Neurodermitis unangenehm. Du denkst bestimmt, wir ekeln uns alle vor Dir. Aber ich glaube, da täuscht Du dich. Ich wette, Du hast schon einigen Jungen aus der Klasse das Herz gebrochen, weil die längst nicht mehr auf Dein Äußeres achten, sondern auf Deinen Charakter. So, mal gucken, wer hat denn Lust, mit Judith zu gehen?«

Niemand der Jungen erklärte sich dazu bereit. Judith fing an zu schluchzen. Oh Gott, Herr Kracht spürte, dass die Situation aus dem Ruder zu laufen drohte. Wieso mussten Neurodermitiker auch so sensibel sein? »Ich würde mit Dir gehen, Judith.«, log Herr Kracht. »Leider ist das ja verboten, weil ich Dein Lehrer bin. Die deutschen Paragraphen sind schuld, dass wir unsere Liebe nicht ausleben können.« Judith beruhigte sich nicht. Herr Kracht ärgerte sich über ihre Mitschüler. Warum hatte nicht wenigstens einer sich für eine Beziehung opfern können. Das wollte sich Herr Kracht nicht bieten lassen. Immerhin war er der Lehrer, er hatte das letzte Wort zu haben: »So, zur Strafe, weil Ihr gegenüber Judith so gemein seid, muss jeder Junge von euch eine Biostunde lang Judith dabei helfen, sich am Körper zu kratzen. Dann lernt ihr vielleicht, dass das nicht eklig sondern eine ganz natürliche Reaktion auf das ständige Jucken ist. Und die Mädchen helfen ihr nach der Stunde dabei, sich einzucremen. Schutzhandschuhe, damit sich keiner bei Judith ansteckt, gibt‘s bei mir.«

Judith stürmte flennend aus dem Raum. Was hatte er denn nun schon wieder falsch gemacht? Ihr Verhalten war doch nicht mehr normal. Neurodermitis hin und her. Aber so geht es ja nun auch nicht.

Illustration von CX Huth