Daniela Böhle: Mitbewohner Tagebuch.

10. Januar 2005

In den Ritzen zwischen den Dielen meiner Wohnung wohnen winzige Käfer. Sie können kriechen und sogar fliegen und es irritiert mich, dass sie so harmlos sind. Es gibt dann keinen anständigen Grund, ihnen was zu tun.

Manchmal wünschte ich, sie würden beißen oder stechen, meine Lebensmittel essen oder meine Pullover, aber die denken gar nicht dran. Sie kriechen durch die Gegend, manchmal, sie fliegen durch die Gegend, noch manchmaler, das war‘s. Trotzdem beunruhigen sie mich.

Ist es in Ordnung, dass ich mit mehreren Dutzend, vermutlich sind es hunderte, Tieren die Wohnung teile? Was ist eigentlich Ungeziefer? Ist das schlimm? Gefährlich? Überträgt es entstellende oder tödliche Krankheiten? Kann ich so etwas wie die Pest bekommen, wenn ich die Dielenkäfer nicht ausrotte? Und gibt es so eine Art Standardumgang mit Ungeziefer, falls es Ungeziefer ist? Gehört der Umgang mit Ungeziefer zu den Dingen, die man von seiner Mutter gelernt haben sollte, so wie: Spülung betätigen, wenn man die Toilette benutzt hat, Hände waschen vor dem Essen, morgens frische Unterwäsche anziehen?

Tiere töten, die man nicht selber in die Wohnung gelassen hat? Müsste das ein Reflex sein?

12. Januar 2005

Ich denke darüber nach, was passiert, wenn ich mit dem Staubsauger die Käfer aus den Ritzen sauge. Dass ich dann kleine Käfer im Staubsaugerbeutel habe, die dann nach und nach herausgekrochen kommen.? Die Käfer werden im Staubsaugerbeutel eine Kampftruppe bilden und sich zusammenrotten. Sie werden nachts wenn ich schlafe aus dem Staubsauger gekrochen kommen und mich umzingeln, wenn ich im Bett liege. Sie werden mir auf das Kommando desjenigen Käfers hin, den sie im Staubsaugerbeutel zum Häuptling gewählt haben, in die Nasenlöcher kriechen und ich werde im Schock sterben. Das kann man, durch einen Schock sterben, das weiß ich.

Deswegen traue ich mich nicht, die Käfer wegzusaugen. Ich könnte auch jedes Mal nach dem Staubsaugen den Staubsaugerbeutel wechseln, damit die weggesaugten Käfer endgültig weg sind. Sicherlich würde ich niemals alle in den Dieleritzen wohnenden Käfer erwischen. Dann werden die weggesaugten Käfer zu Märtyrern. Die Märtyrerkäfer werden heilig gesprochen und jeder meiner Putztage wird zu einem Käfervolkstrauertag. Die Käfer werden in einen heiligen Krieg gegen mich ziehen. Nächtliche Nasenlöcher, Schock und Tod. Ich werde immer nach dem Putzen Angst haben, ins Bett zu gehen und einzuschlafen.

Es geht nicht, ich kann die Käfer nicht wegsaugen.

15. Januar 2005

Ich habe mir in der Bibliothek ein Buch über Käfer ausgeliehen. Es gibt viele Bilder in diesem Buch, Käfer mit Doppelpanzer, mit Geweih, mit Rüssel, aber kein Bild von meinen Dielenkäfern. Möglicherweise lebt bei mir eine noch unbekannte Spezies. Möglicherweise könnte ich meine Wohnung als Naturschutzgebiet ausweisen. Ich könnte dem Käfer meinen Namen geben. Ich kann nachvollziehen, dass Menschen Sterne nach sich benennen, die sie entdeckt haben. Aber bei Krankheiten zum Beispiel hört mein Verständnis auf. Und bei Käfern.

3. Februar 2005

Zur zeit verbringe ich viele Stunden damit, die winzigen Käfer zu beobachten. Ich habe festgestellt, dass sie besonders gern aus den Ritzen kommen, wenn ich die Heizung auf Hochtouren laufen lasse. Wenn ich also meine Ruhe haben will, brauche ich nur einen zusätzlichen Pullover anzuziehen und die Heizung auszustellen. Wenn ich Gesellschaft haben will, drehe ich die Heizung hoch.

8. Februar 2005

Wenn ich mich flach vor einem der kriechenden Käfer auf den Boden lege und ihn lang und intensiv ansehe, wechselt er die Richtung. Ich habe festgestellt, dass sie noch früher die Richtung wechseln, wenn ich dabei nicht zwinkere.

10. Februar 2005

Ich experimentiere mit Telepathie, bin aber nicht sicher, ob sie menschliche Gedanken lesen können. Wenn sich der erste Käfer auf die Hinterbeine stellt, habe ich den Beweis.

12. Februar 2005

Den dicksten Käfer habe ich Phillip genannt und er scheint auf seinen Namen zu hören. Sein Kumpel ist kleiner und heißt seit heute morgen Klaus. Er hat so mit dem Kopf genickt, wie der Klaus das immer gemacht hat, mit dem ich zur Schule gegangen bin. Ich kann mich nicht dazu durchringen, einem der Käfer einen weiblichen Namen zu geben. Wenn das mit der Telepathie endlich klappen sollte, werde ich vermutlich sowieso einige Namensänderungen vornehmen müssen.

14. Februar 2005

Als ich einkaufen war, hat mein alter Freund Stephan, der gerade zu Besuch ist, gestaubsaugt. »Da waren so Käfer, ich dachte, ich mache die mal weg, sicher ist sicher«, hat er bei meiner Rückkehr gesagt, und ich bin in Tränen ausgebrochen. Dann habe ich ihm etwas von Märtyrern und Gegenangriffen durch die Nase erzählt, doch er hat mich nicht verstanden.