Nils Heinrich: Die Kampfreserve der Partei

Die Jugend im Osten, das hieß zum einen Junger Pionier, Thälmannpionier und dann FDJodler zu sein. Zum anderen aber hatte ein Ost-jugendlicher Montags im ZDF-Vorabendprogramm Colt Sievers zu gucken, um am nächsten Tag in der Schule mitreden zu können. Ein Jugendlicher im Westrand von Sachsen-Anhalt, so wie ich, der hörte dann Donnerstag-abends die HR 3 Hitparade mit Werner Reincke, den Finger zuckend über der Aufnahmetaste des Kassettenrekorders, darin eine nach Bitterfeld stinkende ORWO-Magnetband-Kassette, für die man 25 Mark hingeblättert hatte. Und Freitags wurde manchmal die Schule geschwänzt, denn der Plattenladen hatte Ware bekommen, vielleicht ja auch Lizenz-LPs, » …oh, ja, wir haben Nana Mouskouri da!« Wird gekauft, ist Westmusik! » …und dann haben wir noch die neue von den Puhdys!«, ach, nee, so was will ich nicht. Man hörte keine Ostmusik als Ost-jugendlicher, es sei denn, man wollte was zu lachen haben.

Die Wände unserer Kinderzimmer waren zutapeziert mit abfotografierten Bravo-Postern der Pet Shop Boys und von Depeche Mode. Und in der neunten Klasse überkam einen die schlimmste Phase der Pubertät. Der Wettbewerb »Wer hat als erster Schamhaar?« war in unserer Klasse voll am Laufen. Der Sieger war Mirko Laimhausen, das Tier, der hatte vermutlich schon so richtig dunkle Schambehaarung, so einen richtigen finsteren Dschungel in der Feinripp mit Linkseingriff. Die kleinen Nacktmulche von uns anderen konnten sich höchstens mal in einen zarten Flaum zurückziehen, über dessen Wachstumserfolge man bei jedem Duschen wieder aus dem Häuschen war. Mirko Laimhausen hingegen wuchsen sogar schon Haare auf der Brust. Seitdem die eines Morgens da waren, machte er seine Hemden oben nicht mehr zu. Mirko Laimhausen war auch der erste, der eine Quarz-uhr hatte. Mit Digitalanzeige. Aus dem Westen! Mirko Laimhausen war der König von uns Ostjugendlichen in der sachsen-anhaltinischen Provinz.

Wir hatten den Westen und Mopeds und Sehnsucht nach Schambehaarung in unseren pickligen Köpfen, nur nicht den Sozialismus. Und schon gar nicht dessen Verteidigung mit militärischen Mitteln. Doch gerade die sollten wir üben. Ein Befehl von Erich Honecker verfrachtete uns 15-Jährige für zwei Wochen in ein Wehrerziehungslager. Es lag mitten im Wald, irgendwo im Harz, und diente im Sommer als Kinderferienlager »Soja Kosmodemjanskaja« schmalen und blassen Großstadtkindern dazu, sich von den Stärkeren in der Ferienlager-baracke zwei Wochen lang vertrimmen zu lassen. Nun waren wir hier, 15-jährige Hoffnungsträger des Sozialismus, die schmächtige, schamhaarlose Kampfreserve der Partei. Wir trugen die grünen Uniformen der GST, der Gesellschaft für Sport und Technik. Nun gut, sie nannten es Uniform. Es war aber keine Uniform, es war eine Zumutung. Grüne Stoffbahnen, konfektioniert für Einbauschränke aus dem VEB Möbelkombinat und offensichtlich von besoffenen Schimpansen im Zoo von Halle/Saale zusammengenäht. Die Dinger standen eckig und sperrig vom Körper ab. Der Stoff dieser Uniformimitate hatte den gleichen Grün-ton, wie er einem spritzigen Durchfall nach dem Verzehr von verdorbenem Spinat eigen ist, und es war höchstwahrscheinlich derselbe Stoff, in dem Jahre zuvor die Wehrmachtsfeldpost von der Ostfront heim ins Reich geschickt wurde. In unseren deutschen demokratischen Kindersoldatenuniformen sahen wir richtig bekloppt aus. Bekloppt im Wald. Sämtliche Tiere waren noch scheuer als sonst. Und wären sie nicht abgehauen, dann hätten sie gebrochen. Den ganzen Wald hätten sie voll gekotzt. Und wir hätten durch robben müssen.

Die Krönung unserer paramilitärischen Verpackung aber war das Schiffchen. Jeder von uns musste auf dem Kopf ein albernes Schiffchen tragen in derselben Farbe wie die Uniform. Wir sahen aus wie hilfsschwule Leichtmatrosen mit einem Faible für den Modeschöpfer Fidel Castro. Keiner von uns hatte Lust, einen Staat zu verteidigen, der einen so scheiße aussehen lässt.

Aber alle haben mitgemacht, jeden Tag diese idiotischen Übungen in Wald und Wiese. Morgens wurden wir von irgendeiner erwachsenen gescheiterten Existenz aus den Betten gebrüllt und mussten draußen Frühsport machen! Im nassen Gras! Bei Regen. Im Osten hat‘s doch 40 Jahre lang nur geregnet! Kniebeugen, Fleischerhaken, Rumpfbeugen und dann noch dreimal durch den Schlamm um die Baracke laufen. Anziehen und im Laufschritt ab zum Frühstück! Kalter Tee und Rübensirup-brötchen, damit Kraft in die Knochen der Kampfreserve kommt.

Dann ab zum Fahnenappell. Schon wieder stehen! Jugendlicher in der DDR zu sein, das hieß eigentlich nur: irgendwo rum stehen. In der Freizeit mit der ganzen buckligen Familie vorm Obst- und -Gemüse-Laden anstehen, damit jeder sein zugeteiltes Kilo Bananen kriegt, und jetzt im Wehrlager beim Fahnenappell rum stehen, um zu erfahren, dass wir Schießen und Handgranatenweitwurf üben.

Unsere Ausbilder waren dickbäuchige, bockwurstgeschwängerte Männer, die im normalen Leben Produktionsleiter von volkseigenen Betrieben waren. Die Dicken unterrichteten uns im Schießen. Mit halbautomatischen KK-Mpi‘s und scharfer Munition schossen wir auf Pappkameraden, die Westdeutsche darstellten. Wir schossen quasi auf unsere eigenen Westverwandten. Da braucht es schon einen kurzen Augenblick der Überwindung. Wenn man allerdings solche Westverwandten hatte wie ich, die nie zu Besuch kamen, nie Westgeld schenkten und in den Westpaketen höchstens getragene Jinglers-Jeans schickten, mit denen man auch im Osten uncool war, dann überlegte man nicht lang, sondern hielt drauf und drückte ab; nachdem man den Dauerfeuermodus eingestellt hatte.

Wenn jemand daneben schoss oder anderweitig versagte, wurde er drillseargeant-mäßig zusammengeschissen und mit dem Runterbeten der Beschlüsse des 10. Parteitages der SED bestraft. Das Wehrlager war die Hölle. Obwohl man pubertär war, und Mutti und Vati als natürliche Feinde betrachtete, wollte jeder nur noch nach Hause. Zumal wilde Gerüchte im Umlauf waren, Gerüchte von Medikamenten im Tee, die verhindern sollten, dass wir im Lager eine Erektion kriegen. Einige von uns hatten noch nie eine gehabt, waren aber besonders empört. »Wir verteidigen hier den Scheiß-Sozialismus, und die Schweine machen uns impotent!«

Zwei harte Wochen später dann die Heimfahrt in einem Sonderzug der Deutschen Reichsbahn. Wenn bei der Durchfahrt durch einen Bahnhof der Ruf erschallte: »Gugge mal, ne Frau!«, dann lehnte sich die komplette Zugbesatzung auf der Seite des Bahnsteiges aus den Fenstern und freute sich mit dumpfen Lauten, die eigentlich nur schaummaulige Tollwütige im Endstadium von sich geben, über den rasend machenden Anblick eines weiblichen Wesens. Dann war man am Ziel, gab im Magazin die Uniformmissbildung ab und lief befreit nach Hause, auf den Lippen den ehrlichen und tief empfundenen Befreiungsschrei: »Eins, zwei, drei, die Scheiße ist vorbei!« So und nicht anders war sie drauf, die Kampfreserve der Partei.

Illustration von CX Huth