Falko Hennig: Entjungferung bei Johnny Cash

Das Gedächtnis funktioniert ja nach recht simplen Prinzipien, aber das fieseste dabei ist wohl, dass das erste Mal wie eingebrannt bleibt, und jede Wiederholung nur einen immer schwächeren Abdruck hinterlässt. Und das wiederum ist am Fiesesten beim Sex. Den ersten Sex wird man nie vergessen, und gerade der ist wohl die enttäuschendste und absurdeste, auch entwürdigendste Erfahrung, die man machen kann. Später dagegen, wenn man einigermaßen Routine hat, wenn es auch mal gelungenen Geschlechtsverkehr gibt, wenn es sogar einmal richtig grandios ist und dann vielleicht nochmal und noch einige Male, dann bleibt davon nichts, es wird weggewischt. Und dieses schreckliche erste Mal bleibt erhalten, scharf in allen Details, die man so gern vergessen würde.

Das ist ja kein Geheimnis, das kursierte in tausend Varianten, auch in verschiedenen kopierten oder abgeschriebenen Porno-ersatz-produkten, eines davon, es war der Bericht einer Frau, »Mein erstes Mal« oder so, das ging ungefähr so: »Er berührte mich und ich erschauerte, es schmerzte, als er in mich eindrang, ich schrie vor Schmerz, danach blutete ich auch etwas.« Und dann war sie beim Zahnarzt gewesen und der hatte gebohrt. Oder so Sachen wie, dass immer gerufen wurde bei der einen schwangeren Lehrerin: »Was ist denn in Sie gefahren?« oder »Wer hat Sie denn aufgeblasen?«

»Erdbeerwoche« sagte Kurt Brückner, wenn Mädchen aus der Klasse ihre Tage hatten: »Bei der ist Erdbeerwoche«. Von Onkel Hans war bekannt, was es für Maskenbildner beim Film für Probleme machte, die Schauspielerinnen in dem Zustand kameratauglich herzurichten. Pilotinnen durften Frauen ja deshalb auch nicht werden. In Bäckereien konnten sie ebenfalls nicht arbeiten, da konnte der Sauerteig umkippen, oder so.

Ich lauschte diesen Erzählungen neugierig aber etwas verständnislos. Ich hatte noch nie Sex gehabt. Tatsächlich war auch Literatur daran Schuld, dass ich so lange ungefickt blieb, es gab ja keine Pornos, aber in der Literatur gab es so »Stellen«, bei Katz und Maus von Günter Grass onanierte einer mit riesigem Glied im Kreise seiner Freunde auf einem Schiffswrack bei Danzig. Bei Charles Bukowski war alles noch eindeutiger. Und ich las sowieso gern und praktizierte die Technik, die als »einhändiges Lesen« in der Fachliteratur erwähnt wird. Karl May war ja auch enthusiastischer Onanist. Viele haben die Gemeinsamkeiten von Selbstbefriedigung, Lesesucht und Opiatkonsum beschrieben, alles sehr ähnlich, macht aber auf Dauer einsam. Ich wollte zwar nicht ungefickt sterben, aber es schien sich doch alles in diese Richtung zu entwickeln.

Illustration von CX Huth

Er habe sich selber entbubt, erzählte ein Onkel, aber das hatte ja nun wohl jeder. Es ging ja nicht um das Onanieren sondern um das Ficken. Das musste, nach allem was ich gelesen hatte, noch viel besser sein. Denn immerhin war ich schon 18 Jahre alt und noch immer hatte ich nicht gefickt. Das konnte ich überhaupt niemandem erzählen, es war völlig absurd, eigentlich nur durch meine Passivität zu erklären. Bei mir herrschten doch ziemlich romantische Vorstellungen, dass diese oder jene weltberühmte Sängerin aus Amerika oder Schweden oder eine Schauspielerin aus der BRD oder der Schweiz mich irgendwo sehen würde in der Menschenmenge, und mich dann nicht mehr vergessen könnte, mich kennen lernen wollte und durch meine charmante geistvolle Art nicht anders konnte, als mit mir in geistigen und sexuellen Kontakt zu treten. So ungefähr stellte ich mir das vor.

Kafka war grandios, wie sich der eigene Körper unangenehm und fremd anfühlt, wie man ein widerwärtiges, riesiges, mit einer Schale bedecktes Ungeheuer ist, nein, nichts gegen Kafka, Kafka war grandios. Diese schrecklichen, undurchschaubaren Gänge, durch die man geschickt wurde, die unverständlichen Befehle, die Bedeutungslosigkeit des Gesagten, die Unmöglichkeit den Sinn der Einrichtung zu finden, ob nun im Kleinen oder im Großen. Aber dann entdeckte ich auch noch Bukowski, und der beschrieb es eigentlich alles noch viel treffender, wie ich mich fühlte, wie die Umwelt fremd, bedrohlich und unangenehm ist, welchen Trost der Alkohol spenden kann, der einen mutiger, lustiger und verwegener macht, auch überlegen. Das Starren der Menschen auf die von Hautkrankheit befallenen Stellen, und dass er auch noch mit 50 onanierte.

Dann war da diese Fahrt nach Prag mit einem Freund. Auf der Rückfahrt war eine Betriebsgruppe aus Berlin mit im Zug ab Sebnitz. Das war eine doch nette Unterhaltung und wir bekamen mitleidige Reaktionen wegen des Stasi-Verhörs, von dem wir erzählten, und der brutalen und unangemessenen Behandlung, die uns der Geheimdienst hatte angedeihen lassen. Und dann hatte die eine von der Gruppe, sie waren alle von der Glühlampenfabrik »Narva«, die eine Dünne hatte schöne grün-blaue Augen, mit denen sich meine Blicke immer wieder kreuzten.

Illustration von CX Huth

Dass das jetzt die Nacht werden würde, das war mir immer noch nicht klar. Wohl selbst dann noch nicht, als ich mit ihr, in der Straßenbahn durchs nächtliche Marzahn zu ihrer Wohnung fuhr. Dort spürte ich dann aber doch eine Spannung wie noch nie. Jetzt würde es endlich passieren. Wir saßen auf ihrem Sofa und sie fragte, ob ich Johnny Cash kenne? Sie legte die gerade erschienene Amiga-Platte auf. Die Musik beeindruckte mich nicht besonders, Gitarren, vom Text verstand man kaum etwas. Ritt er auf dem Cover nicht auf einem weißen Pferd? Immerhin eine Lizenzplatte.

Ich küsste sie oder sie mich, wir stießen immer so eigenartig mit den Zähnen zusammen, das war schon sehr komisch und bestimmt nicht gut für den Zahnschmelz. Wir tranken Alkohol und zogen uns aus. Zum Glück hatte sie so ein Klappsofa, das sich zum Bett umbauen ließ. Ich hatte ja keinen Schimmer, was ich zu machen hätte, außer sehr groben anatomischen Kenntnissen wie: Das Runde muss in das Eckige oder so. Also mein Schwanz musste in die Muschi; sollte jedenfalls, das war eindeutig. Sie war recht mager, hatte eigentlich überhaupt keine Brüste. Ich versuchte, meinen Penis bei ihr reinzustecken, aber das ging irgendwie nicht. Ihr Schamhaar war auch so hart, ich hatte immer gedacht, dass es weich sein müsste, und nun kam es mir vor wie eine Drahtbürste. Warum ich denn unbedingt Sex wollte, fragte sie. »Ich hatte noch nie welchen«, gestand ich und sie konnte es eigentlich nicht glauben. Das Hauptproblem war: Ich kam da überhaupt nicht rein. Aber dafür kam ich ansonsten, der ganze schöne angestaute Samen spritzte heraus. (Die arme Frau!) Die Platte war auch um und das war es eigentlich schon. Wir schliefen Dank des gnädigen Alkohols ein und am Morgen bekam ich Kaffee und musste grinsen, als ich im eiskalten Tagesanbruch an der Straßenbahnstation wartete und dann durch die Steinwüste in die Schönhauser Allee fuhr. Nicht gerade ein hoffnungsvoller Anfang, aber es war geschafft, ab jetzt würde alles besser werden. Ihre Adresse hatte ich in einem Kalender notiert, da könnte ich mich wieder melden.

Diesen Kalender, den ich dann verlor. Aber jedenfalls verlor ich meine Unschuld an eine Fließbandarbeiterin bei Narva, der ich nie wieder so nah war.