Bov Bjerg: Die Stunde der Revolution war nur fünf Minuten lang.

(am 20. Februar nachmittags zwischen zwei vor und drei nach halb drei)

Draußen Schneematsch, aber drinnen ist Frühling. Frühling in den Schön-Schöner-Schönhauser-Allee-Arcaden. Frühling im Untergeschoss, zwischen Mobilcom und kaiser's drugstore Hier bin ich Kaiser. Mitten im Gang haben sie ihn aufgebaut. Einen richtigen kleinen Frühling, wuppdich auf die beigen Bodenkacheln:
– ein dunkelbraunes Erdinselchen mit Grashälmchen drauf
– ein helles Sitzbänkchen aus Kiefernholz, unbehandelt
– ein Wegelein aus lauter strahlend weißen Kieselsteinchen; ein Wegelein quer übers Inselchen, es ist bestimmt zwei Meter lang oder sogar zwei Meter zwanzig
– ein hohes Rattanböglein, welches sich übers Weglein biegt, und oben mitten auf dem Rattanböglein drauf:
– eine wuchtige Wattewurst, die in der Zugluft wabert. Schnee? Wahrscheinlich Schnee. Was für eine prächtige Schneewurst!

Die Grashälmchen sind grün, natürlich sind sie grün, aber sie sind richtig chlorophyllgrün, das ist ja keine Selbstverständlichkeit. Dazwischen hie und da ein Rudel Styroporkügelchen. Schnee? Wahrscheinlich Schnee. Die meisten Styroporkügelchen sind schon geschmolzen, es ist ja Frühling. Es ist ein wind- und wetterfester Frühling, ein Frühling ohne Reue, mit immer schön hell bis abends um halb zehn, wenn die Putzfrauen nach Hause gehn.

Lila Krokusköpfchen stoßen aus der Erde und begrüßen den Frühling.
– Hallo, Frühling! Hallo!

Kunden hasten links und rechts vorbei am Inselfrühling, Kunden mit lackierten Papiertaschen, mit bunt bedruckten Polyäthylenbeuteln, mit dreifarbigem Zellophanpaprika 1,99 das Pfund. Eine gar nicht mal so alte Oma mit einem Omawägelchen, einem schottenkarierten Textilschrank auf zwei Rädchen, wahrscheinlich ein Zentner mehligkochende Kartoffeln darin, die kann man leichter mit der Gabel zerdrücken und die Bratensoße saugen sie auch besser auf.

Die Speichen vom Wägelchen der gar nicht mal so alten Oma rotieren quietsch quietsch am Frühling vorbei. Alle alle Kunden hasten (es sind ja sozusagen Kunden auf Lebenszeit, die haben das ja sozusagen gelernt, haben das Kundesein ja mit der Muttermilch oder jedenfalls mit dem Aletebrei eingesogen), alle alle hasten höflich am Inselfrühling links und rechts vorbei.
– Hallo, Inselfrühling!
– Hallo, Kunden! Einen wunderschönen usw. !
Hei, das ist ein Begrüßen, ein Sichstrecken und den Winter aus den Gliedern schütteln!

Wer möchte da nicht verweilen, wer möchte da nicht sich erfreuen am Trapptrapp der Kunden, am Grüngrün der Insel, am Schönschön der Schön-Schöner-Schönhauser-Allee-Arcaden im ersten UG zwischen Mobilcom und kaiser's drugstore Hier bin ich Kaiser? Wer möchte da nicht seine Seele baumeln lassen? Wer möchte da nicht ein Erholungssitzchen wagen auf dem Kieferbänkchen?

Ein Schildchen steckt im Ufer vom Frühlingsinselchen: BITTE NICHT BETRETEN! Direkt am Kieselsteinchenweg: BITTE NICHT BETRETEN! (Naturschutzgebiet?)

Man wirft einen ganz diffusen Schatten. Das kommt von den Neonlampenkastensonnen. Ein diffuses Schattenkreuz nach Nord, nach Ost, nach Süd, nach West. Das sich am Boden dreht, wenn man ein paar Schritte geht: Nordwest, Nordost, Südost, Südwest. Kürzere Schritte: Westnordwest, Südsüdwest, Ostsüdost, Nordnordost. Die Verkäuferinnen und Verkäufer treten vor ihre Läden (nur die Verkäuferin vom Neuform Allee-Reformhaus Treffpunkt gesundes Leben bleibt hinter ihrem Schaufenster stehen), treten vor ihre Läden, zeigen mit ziemlich langen Zeigefingern auf das Schattenrad. Beginnen zu singen: Sag mir, wo du stehst. Und welchen Weeeeeg du gehst.

Wie soll man über diesen Schatten springen? Wie kommt es, dass man sich auf einmal auf dem Bänkchen wiederfindet, unbehandelt wiederfindet auf dem Sitzbänkchen aus Kiefernholz? Man sitzt. Man atmet den Frühling. Man lugt.

»Plötzlich« geht alles ganz schnell. Aus der Richtung vom Heimwerkermarkt piept ein lautes Piep-Piep-Piep, einer ruft: Stehen bleiben! Einer ruft: Jetzabermalstehnbleimhier!

Ein Junge bremst vorm Frühlingsinselchen, Polyesteranzug (lila, weiß, türkis und ein bisschen gelb), er hat den Arm gestreckt, die Hand zur Faust geballt! In der Faust eine Stichsäge AEG Step 600 X mit 4-Stufen-Pendelhub und Hubzahlvorwahl, wer sich damit auskennt, kann das auf den ersten Blick erkennen. Der Polyesterjunge hat ein ganz verschmiertes Gesicht; Erde oder Blut oder geklaute Schokoladenosterhasen oder was? Man raunt: »Jetzt aber hopp!«
So kommt es, dass der Junge sich auf einmal auf dem Bänkchen wiederfindet, unbehandelt wiederfindet auf dem Sitzbänkchen aus Kiefernholz. Man lässt ihn spucken auf ein softes Zellstofftaschentuch (Menthol) und wischt ihm erstmal das Gesicht.

Da rennt der Wachschutzmann mit seiner hexa- oder okto-, jedenfalls total polygonalen Wachschutzmütze. Bleibt stehen. BITTE NICHT BETRETEN! Er sagt: »Runterkommen da.«

Die Kunden schauen schon und werden immer mehr. »Weitergehen«, brummt der Wachschutzmann. »Es gibt hier nix zu sehen«, lügt der Wachschutzmann. Die Kunden »kuschen«. Umrunden den Inselfrühling im Uhrzeigersinn: Reiseland, Kaiser's Drugstore, Colloseum Junge Mode, beige Fliesen beige Fliesen beige Fliesen, Mobilcom, Schreibwaren-Winter, Wir bauen für Sie um. Beige Fliesen beige Fliesen, dann wieder Reiseland usw. und so fort ad nauseam, das heißt bis zum Kotzen, aber es klingt nicht so eklig. Ein massenhaftes Inselchenumkurven, Mekka im ersten UG, Hadsch in Prenzlauer Berg. Die gar nicht mal so alte Oma mit dem Omawägelchen immer mittenmang.

Was kriegt sie zu sehen? Revolution! Der Polyesterjunge zeigt der Stichsäge ein Bänkchenbeinchen. Das Bänkchenbeinchen zittert. Das Bänkchenbeinchen weiß nicht, dass es keinen Strom gibt auf dem Frühlingsinselchen. Man ruft: »Ho, jetzt wird abgerechnet, Bänkchen!« Das Bänkchenbeinchen zittert, das Bänkchen wackelt, und wenn die Banken erstmal wackeln, wackelt das System.

Die gar nicht mal so alte Oma mit dem Omawägelchen presst die Lippen zusammen, sie hat ja ihr Gebiss daheim gelassen, bei Plus kann man ja einkaufen ohne zu reden, aber jetzt muss sie beim Inselchenumkurven herrgottsack doch wirklich lachen. Man schaut in einen mehligkochenden Kartoffelmund, bis ganz nach hinten, wo dunkelrosa das Zäpfchen vibriert.

»Plötzlich« geht alles ganz langsam. Aus dem Neuform Allee-Reformhaus Treffpunkt gesundes Leben tritt eine adrette Reformhausfachverkäuferin mit biodynamischen Schritten. Ohne mit der Wimper zu zucken macht sie dem Polyesterjungen ein paar schockierend schöne Augen.

Der hat »plötzlich« keinen »Bock« mehr, das Bänkchenbeinchen zu erschrecken, hat keinen »Bock« mehr auf Revolution. Steigt vom Inselchen herunter, legt dem polygonalen Wachschutzmann die Stichsäge vor die Füße, sagt: »war bloß Spaß.« Der Polyesterjunge und die Reformhausfachverkäuferin werden Hochzeit feiern mit Pomp, soviel ist sicher, oder einen Kaffee trinken gehen für Euro 1,05 (Pott) da hinten bei Der Bäcker Feihl.

Der Mekkakonsumentenstrudel löst sich auf, einmaliget Erlebnis gewesen für Hadschi Kunde, mal wat andret, dufte Gemeinschaft, gehnwa nächstet Jahr wieder hin. Ein Omawägelchen, quietsch quietsch. Verstummt (Rolltreppe). Rechts stehen, links gehen. Die gar nicht mal so alte Oma dreht sich nochmal um, sie presst die Lippen zusammen (Gebiss). Verschwindet im Himmel.

Man sitzt auf einem Kieferbänkchen, unbehandelt und allein. In der Zugluft wabert eine wuchtige Wattewurst.
Der Wachschutzmann sagt: »Runterkommen da.«
Man sagt: »Nee.«
»Runter.«
»Nee.«
»Runter.«
»Nee.«
Um halb neun kommen die Putzfrauen und wischen um den Wachschutzmann herum, er hebt den einen Fuß und dann den andern.
»Runter jetze.«
»Nee.«
Die Krokusköpfchen klappen die Blüten zu. (Nur die echten. Die Textilkrokusse bleiben offen.) Um Punkt halb zehn knipsen die Putzfrauen die Neonlampenkastensonnen aus.
»Runter.«
»Im Dustern?«

Illustration von CX Huth