Uli Hannemann: Für immer und ich

Ich bemerkte sie vor dem Kinderladen in der Kienitzer. Eine blasse Vorfrühlingssonne schien. Sie stand vollschlank in den Rahmen der offenen Tür gelehnt und blickte heraus, ich stand draußen und blickte hinein. Heraus, hinein; heraus, hinein. Kurz aufglühende Momente voll vielversprechender Symbolik – der Anfang war gemacht.

Erzieherinnen hatten es mir schon immer angetan: Mich beseelte der heimliche Wunsch sowohl nach Strenge als auch nach Güte. Wenn ich sie in der Hasenheide beobachtete, wie sie mit den Kindern scherzten, ihre Unruhe, wenn sie sich auf dem Rückweg dem Damm näherten und ihre Schützlinge wie ein Hütehund die Schafe zusammentrieben, wenn sie sie entnervt anschrieen, dann wünschte ich mir oft, eines der Kinder zu sein. Die Erzieherin wäre mir zugleich Mutter und Tochter, Gefährtin und Geliebte, Heilige und Hure, Köchin, Serviererin, Waschfrau, Tankwartin und natürlich Erzieherin. Ich müsste nur wollen, müsste den ersten Schritt tun, dann würde sich alles Weitere wie von selbst ergeben: Unsere Schicksale würden sich unentwirrbar ineinander verstricken und auf einer schnell wachsenden Lawine der Liebe bergab – ach was, bergauf – rasen, sämtliche Bäume des Bedenkens wie Streichhölzer knickend und beiseite fegend. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen.

»Hallo«, sagte ich.

»Hallo«, sagte sie, gähnte und streckte sich anmutig, bevor sie sich abwandte und hineinging. Das klappte ja wie geschmiert! Ich war mir ziemlich sicher, dass sie Feuer gefangen hatte. Ich selber brannte ohnehin längst lichterloh wie ein trockener Weihnachtsbaum. Völlig aufgewühlt lief ich schnellen Schritts nach Hause. Fast hatte ich es vergessen geglaubt und nun war es auf einmal wieder da, stärker denn je zuvor: dieses zarte Sehnen, das Gefühl durch den Magen gaukelnder Schmetterlinge, die sich in der ätzenden Säure sacht zersetzen, nur um Platz für noch mehr nachfolgende zu schaffen. Ein Gefühl, das zugleich so süß ist wie der süßeste Honig und so schmerzt wie der schmerzendste Schmerz, sei es im Zwiespalt mit einer bereits vorhandenen Liebe, die unter langsamen Qualen hilflos dahinstirbt, sei es aus dem nagenden Zweifel heraus, ob denn das Gefühl überhaupt erwidert werde, oder und vor allem einfach nur, weil das Gefühl, ob erwidert oder nicht, ohnehin grundsätzlich viel zu groß ist, um überhaupt jemals annähernd gestillt werden zu können. Ein Gefühl wie ewiger Durst und die nächste Tanke hunderte Meilen weit weg...

Sei es, wie es sei, ich hatte tierischen Bock, mal wieder ordentlich zu ficken! Die Alte vögelte garantiert wie Teufels Großmutter – für so etwas habe ich einen Blick.

Hastig unterdrückte ich diese hässlichen Hirngespinste, die nicht das Ggeringste mit der reinen und wahren Liebe, so wie ich sie mir träumte, zu tun hatten, und schalt mich einen Tunichtgut. Ich schloss meine Hose, die ich ganz in Gedanken geöffnet hatte, und lächelte in milder Scham über den üblen Streich, den der Instinkt meinem Intellekt und meiner Seele gespielt hatte. Tatsächlich würde ich warten können, würde, statt auf schnelle Befriedigung, die ja doch nichts als Leere im Kopf und im Herzen hinterlässt, auf langsames Kennenlernen setzen, auf Vertrauen, geistige Nähe und das gemeinsame Errichten einer Basis, von der aus dann unsere Rakete aufsteigen würde, hoch zu den Sternen... Oder meine Rakete zumindest, hehe – die würde abgehen wie die Reichspost! Wenn ich an die dralle Maus nur dachte, hatte ich schon Mühe, den Countdown wieder abzubrechen.

Schluss jetzt – ich hätte mich ohrfeigen können für diese plumpen Anwandlungen! Was war denn bloß los mit mir? Ich war doch sonst nicht so – die überbordende Liebe musste meine Sinne komplett verwirrt haben. Ich war inzwischen zu Hause angekommen, eilte die Treppen hoch, schloss auf und begab mich sofort ins Bad. Dort nahm ich eine Rasierklinge vom Brett und ritzte mir mit einem raschen Schnitt die Zunge auf. Zufrieden betrachtete ich im Spiegel das hervorquellende Blut. Allmählich brachte das Sühnewerk mich wieder zur Besinnung.

Es würde laufen wie immer: Ich würde anfangen, massiv zu klammern; sie würde sich eingeengt fühlen und zunehmend auf Distanz gehen. Daraufhin würde ich sie nur noch mehr bedrängen: Ich war so stark, ein brodelnder Vulkan, ich hatte so unendlich viel Liebe zu geben und niemand wollte sie haben.

Sie würde mich verlassen. Rasend vor Kummer stöhnte ich auf. Ich ging ins Zimmer, sah meine Plattensammlung durch und begann, der Erzieherin eine »Du-hast-mich-verlassen-aber-ich-habe-dich-trotzdem-noch-lieb« -Kassette aufzunehmen. Wir würden Freunde bleiben. Es war nicht ihre Schuld – Freiheit, Sex und Unverbindlichkeit sind nun mal die Pestbeulen der Metze Europa und sie war doch auch nur ein Kind ihrer Zeit. Ich würde im Hintergrund dezent auf sie warten und für sie da sein, würde sie nach Enttäuschungen ohne jede Gehässigkeit trösten, der lebende Beweis für wahrhaftige und immerwährende Liebe. Die Kassette wurde richtig gut: »Manchild« von den »Eels«, »Asleep from Day« von den »Chemical Brothers« und die »Cowboy Junkies« mit »Sun Comes up, it‘s Tuesday Morning« – war heute nicht sogar Dienstag? Wahnsinn! Beim Abspielen schluchzte ich mehrmals laut auf vor Rührung.

Ich hörte sie mir dreimal von vorne bis hinten an, dann steckte ich sie in meinen Werkzeugkasten und verließ damit die Wohnung. Dabei knirschte ich vor ohnmächtiger Wut mit den Zähnen: Dieser Nutte würde ich es zeigen! Zu wie vielen Männern mochte die nimmersatte Nymphe in der Zwischenzeit »hallo« gesagt haben? Unser kleines Wort und ureigenstes süßes Geheimnis um einen billigen Moment der Eitelkeit mannstoll in den Schmutz getreten und zur hohlen Phrase degradiert! Natürlich konnte sie was dafür! Schließlich sind wir Menschen – und eben weil wir Menschen sind, sind wir auch in der Lage, unseren Willen zu kontrollieren. Darüber hinaus musste sie einfach wissen, wie unendlich sie mich mit ihrer fatalen Flatterhaftigkeit verletzen würde.

Die Verräterin schloss gerade den Kinderladen und drehte sich um, als sie mich mit dem Werkzeugkasten heranklötern hörte. »Hallo«, sagte ich.

»Hallo«, sagte sie.

»Ich habe dir ins Herz geschaut«, bedauerte ich, »aber ich habe mich nicht gefunden.«

Mit der schmalen Seite des Zimmermannshammers spaltete ich ihr den Schädel. Sie sackte lautlos in sich zusammen. Es tat entsetzlich weh, sie da in ihrem Blut liegen zu sehen, aber wenn ich sie nicht haben konnte, so sollte sie auch kein anderer haben. Meine Liebe macht keine Gefangenen. Ich warf die Kassette in den Rinnstein, wo sich ihre Hirnmasse schon mit dem einsetzenden Regen zu mischen begann. Dann setzte ich mich daneben und weinte um unsere Zukunft.

Illustration von CX Huth