Horst Evers: Ein Tag in Berlin

7 Uhr:

Wecker klingelt. Mache ihn aus. Im Kopf tausend Fragen. Aber eine dominiert. Warum habe ich den Wecker auf 7 Uhr gestellt? Was will ich mir damit beweisen? Ist das bloße Angeberei? Guck mal, wenn ich einen Tag von mir beschreibe, geht das schon um sieben Uhr los. Hm. Warum nicht. Bin stolz. Döse dann nochmal weg.

8 Uhr:

Wache auf wegen Bauchschmerzen. Schlimme Bauchschmerzen. So ein Drücken. Stoßartiges Drücken. Mal links, mal rechts, mal in der Mitte. Kaum auszuhalten. Denke, wenn das noch schlimmer wird, muss ich was dagegen tun. Womöglich aufstehen oder so. Die Aussicht macht mich müde. Schaue an mir runter und sehe mein Kind auf meinem Bauch herumhüpfen. Das Kind sagt, ich soll aufstehen. Kommen sonst zu spät in den Kinderladen. Sage, wir könnten doch heute mal schwäntzen. Kind fragt, warum? Weiß nicht? Bauchschmerzen? Kind beginnt auf dem Gesicht zu hüpfen, fragt ob es dem Bauch jetzt besser geht. Die Mutter vom Kind sagt dem Kind, es soll aufhören. Ich bin dran mit zum Kinderladen bringen. Und wenn das Kind mich kaputtmacht, muss sie raus in die Kälte. Kind hört auf zu hüpfen und holt meine Anziehsachen. Schaue dankbar zur Mutter. Sehe, dass sie immer noch schläft. Neben ihr läuft der Kassettenrecorder mit Zeitschaltuhr. Jetzt wünscht mir der Kassettenrecorder einen guten Morgen. Dann springt mein Recorder mit Zeitschaltuhr an. Mein Recorder wünscht auch einen guten Morgen. Darnach tauschen die beiden Recorder Komplimente und Zärtlichkeiten aus. Das ist schön. Haben diese Bänder schon vor langer Zeit aufgenommen. Damit die Beziehung nicht in puren Pragmatismus und nur noch Kinderdienst abgleitet. Überlege, was wir eigentlich noch für Bänder haben. Das Kind ist jetzt angezogen. Es hält mir anklagend die Anziehsachen hin. Weigere mich, die blöde Wollunterhose anzuziehen. Kind sagt, wir haben keine Zeit zum Diskutieren, draußen is kalt, ich war diesen Winter schon genug krank. Und jetzt schnell, wir sind spät dran. Frage mich, ob das alles so richtig is. Dann nehmen wir uns in den Arm. Ja, is alles richtig.

8.40 Uhr:

Auf Höhe des zweiten Stocks im Treppenhaus springt das dort deponierte Band an und fragt, ob wir auch die BVG-Karte mithaben. Gehen nochmal zurück.

8.45 Uhr:

Das Kind zieht mich den Bürgersteig entlang. Ich kann nicht so schnell, außerdem kratzt die doofe Wollunterhose.

8.50 Uhr:

Der Busfahrer fragt beim Einsteigen, ob wir auch an die Bastelsachen gedacht haben. Heute ist doch Basteltag in der Kita. Verdammt. Vergessen. Er lächelt und holt eine Tüte mit Bastelzeug hervor. Kein Problem, er hat sich schon sowas gedacht. Dann sagt er, er brauche noch unseren Kitaaktionsplan für die nächste Woche, er kann sich sonst nicht vorbereiten. Diesmal in zweifacher Ausführung, weil Dienstag und Donnerstag hat ein anderer Fahrer Dienst. Und ich soll die Tage, wo ich Kinderdienst habe, rot markieren. Denke, stimmt schon was man sagt, um so ein Kind zu erziehen braucht es ein ganzes Dorf.

8.53 Uhr:

Es ist heiß im Bus. Bin knallrot. Die blöde Wollunterhose bringt mich um.

8.55 Uhr:

Nollendorfplatz. Hier tobt das Leben. In der Trattoria gastiert am Abend ein Shownudelesser aus Rheine. Ein Mann fragt nach dem Weg zur CDU-Parteizentrale. Ein anderer antwortet: »Na hier geradeaus, über die Ampel, dann links, kurz rechts, stehen bleiben, Ampel, rüber, dann links oder gerade aus, is egal, aber denn müssen se dahinter rechts oder links rechts, denn da kommen se nicht rüber, Stück links, Ampel rüber, rechts. Is dann da, verstanden?«

»Ich glaub ja, ja schon irgendwie.«

»Na, ich weiß ja nich, wie müssen se an der zweiten Ampel?«

»Ääääähhh… ich ääääh…«

»Zweite Ampel, hammse nich zugehört?«

»Ääääh… links?«

»Schon verkehrt.«

»Rechts?«

»Nein, jetzt ist die Ampel schon wieder rot. Na, das kann ja was werden.«

Der erste Mann geht los. Sehe, wie der andere ihm folgt.

Illustration von CX Huth

9.05 Uhr:

Im Kinderladen. Die Kinder diskutieren fröhlich und angeregt darüber, dass es immer schwieriger wird, die Eltern morgens in Gang zu bringen. Die Eltern stehen apathisch starrend im Flur und schwitzen. Ein paar schimpfen murmelnd auf die doofe Wollunterwäsche. Der kleine Moritz ist traurig, weil sein Busfahrer seine Bastelsachen vergessen hat. Alle schimpfen ein bisschen auf die BVG.

9.15 Uhr:

Stürme außer Sichtweite des Kinderladens auf eine Citytoilette und ziehe die lange Wollunterhose aus. Der süße Duft der Anarchie durchweht die öffentliche Toilette.

9.20 Uhr:

Raus aus der Toilette. Fühle mich gut. Endlich kann ich wieder die klare kalte Berliner Luft spüren, wie sie direkt durch die Jeans auf meine männliche Beinhaut trifft. Das ist Freiheit. Ah. Mir wird kalt. Gehe zurück zur Toilette und ziehe wieder die lange Wollunterhose an.

9.25 Uhr:

Ein Mann hetzt durch die Maaßenstraße. Erkenne, den, der nach der Parteizentrale sucht. Er schaut sich ängstlich um. Zehn Meter hinter ihm der andere.

»Faaalsch, falsch!!! Sie laufen völlig falsch. Das wird ja nie was! So, wir gehen jetzt nochmal zum Ausgangspunkt zurück und sie probieren‘s neu. Nochmal ganz von vorn. Ich erklär Ihnen den Weg doch nicht zum Spaß.!«

10 Uhr:

Wieder zuhause. Jede Menge Arbeit. So viel Arbeit. Überhaupt gar nicht zu schaffen, bis ich das Kind wieder abholen muss. Mache den Computer an. Schaue nach Mails. Bauer Meinke aus Stade hat Fotos vom Kalb Knut geschickt. Erinner mich noch gut an die Geburt. War ‘n ganz schönes Stück Arbeit. Will dann Text schreiben. Starre auf Bildschirm. Schlafe zügig ein.

15 Uhr:

Werde von Telefonklingeln geweckt. Schaue auf Bildschirm. Boarh, habe über 200 Seiten Text geschrieben. Aber leider immer nur der gleiche Buchstabe. Gehe ans Telefon. Ein Mann von irgendeiner Telefongesellschaft fragt, ob ich nicht Lust habe, den Tarif zu wechseln. Sage: »Ja, ja, warum nicht? Gern, aber im Moment ist grad schlecht. Muss gleich das Kind abholen. Rufen Sie doch morgen nochmal um die gleiche Zeit an.« Mache das seit Wochen so. Funktioniert besser als jeder Wecker.

15.20 Uhr:

Zwei Männer rennen über den Bürgersteig. Der hintere schreit: »Verkehrt!!! Immer verkehrter! Mann, jetzt reißen se sich mal zusammen, ich hab auch noch was anderes zu tun, als Ihnen den Weg zu erklären!!!« Das glaub ich nicht.

16 Uhr:

Hole das Kind ab. Die Kinder haben irgendwelche Sachen gebastelt. Keiner weiß genau, was es ist, aber alle freuen sich, dass sie jetzt etwas in der Hand haben, was sie gleich ihren Busfahrern zeigen können.

16.30 Uhr:

Die ganze Familie ist wieder zuhause. Ab jetzt das Übliche: Spielen, kochen, spielen, essen, spielen, kurz Nachrichten: Die Pressekonferenz der CDU zum neuen Verkehrsleitsystem musste heute morgen abgesagt werden, weil der Referent nicht erschienen ist. Dann wieder spielen, aufräumen, spielen. Gegen halb 10 weckt uns das Kind, weil es jetzt ins Bett will, es muss morgen früh raus.

22 Uhr:

Kind schläft. Noch‘n bisschen zusammen sitzen. Gegen halb eins nochmal kurz an den Computer. Gegen drei wieder auf der Tastatur aufwachen. 320 Seiten »r« geschafft. Alle schlafen, auch ins Bett.

3.15 Uhr:

Kann nicht einschlafen. Höre Schreie von der Straße. »Immer noch verkehrt, ganz falsch!!! Na, ich würd sagen, wir machen jetzt für heute Feierabend und machen morgen weiter.«

3.30 Uhr:

Kann immer noch nicht einschlafen. Hole die Tastatur ins Bett und lege die Nase drauf. Schlafe sofort ein. Endlich.