Spider: Telefonzellen für Alle!

In der Eisenbahn. Hinter mir auf’m Gang steht ein Mann und telefoniert. Mit einem Taschentelefon. Früher gab’s an den Straßenecken solche Zellen, da sind die Leute reingegangen um zu telefonieren. Da waren sogar schon Telefone drin. Mußte man gar kein’s mitbringen. Gute alte Zeit! Heute müssen die Menschen auf offener Straße telefonieren. Ausgesetzt dem Schneeregen und dem eisigen Atem der Sozialdemokratie. Sogar Frauen und Kinder. Dafür bin ich ’89 nicht auf die Straße gegangen.

Der Mann auf’m Gang ist auch noch sehr jung. Fast noch ein Kind. Der Ärmste! Hineingeboren in eine von Profitgier regierte Welt, die sich seine Eltern dann auch noch bei ihm geborgt haben. Wenigstens kann er in der gut beheizten Eisenbahn telefonieren. Noch! Bald wird er sich auch das nicht mehr leisten können. Er kämpft um’s nackte Überleben. Er muß alles was er hat verkaufen. »Verkaufen! Verkaufen! Alles Verkaufen!« weist er ein für mich unsichtbares Familienmitglied an, das mit ihm telefoniert, irgendwo auf einem nasskalten Bürgersteig in Deutschland. Seine Mutter vielleicht, mit vor Sorgen ergrautem Haupt, und den Rücken gebuckelt, vom Toilettenputzen in den Bädern des dekadenten Bürgertums. Oder seine kleine Schwester. Ein blasses dünnes Kind mit klugen Augen. So eine, die besser zur Schule gehen sollte, statt in den Steinbruch. Aber dann hätte sie nicht mal genug Geld für eigene Schuhe. Sie müsste im Winter barfuß laufen und würde in die giftigen Haufen der Kampfhunde treten, bis ihre Füße zu blutigen Klumpen einer hirnähnlichen Masse geworden wären.

Tränen steigen mir in die Augen. Tränen der Trauer, Tränen der Verzweiflung, aber auch Tränen des Zorns und Tränen der Wut. Die Tränen tropfen auf meine Brillengläser und ich muss die Brille putzen und dabei verschmiert alles so und man kriegt’s nicht wieder ordentlich, weil das Glas entspiegelt ist, aber das war als Sonderangebot bei Fielmann billiger als richtiges Glas und man hat’s ja auch nicht so dicke, also finanziell jetze, und dafür bin ich ’89 auch nicht auf die Straße gegangen.

Alles wird immer schlimmer. Man kann sich ja denken, wie es weitergeht. Als erstes waren die Telefonzellen dran. Als nächstes kommen die – ich sag mal – die Toiletten. Die ersten Anzeichen dafür habe ich schon entdeckt. Die ärmsten der Armen, die ohne eigene Toilette, die an Straßenbäume oder Hauswände pullern müssen.

Bald werden es viele sein. Die verarmten Massen, sogar Frauen und Kinder, werden mit heruntergelassenen Hosen im Nieselregen hocken, ihre Hintern den kräftigen Kiefern der Kampfhunde schutzlos ausgeliefert, und telefonieren, wobei sie eine Wurst machen. Klägliche, nährstoffarme Häufchen, in die dann dünne, blasse, barfüßige Kinder mit klugen Augen reintreten werden, denn es sind so viele, dass man ihnen nicht ausweichen kann. Schöne Zukunft! So sieht sie also aus.

Ob der junge Mann weiß, dass sie so aussieht? Er ist mit dem Telefonieren fertig. Resignierend verstaut er das Taschentelefon in einem Köfferchen. Es gelingt mir, einen Blick auf seine karge Habe zu werfen. Da sind nur: viel Papier, Rechnungen sicherlich, eine Zeitung, wahrscheinlich sein Bett, und ein Apfel, die liebe, vom eigenen Munde abgesparte Gabe seiner buckligen Mutter.

Das ist alles, was er jetzt noch hat, denn zu Hause wird seine kleine Schwester schweren Herzens alles verkaufen, was er sonst noch besaß. Sein Lieblingsbuch, sein Fahrrad, seinen Fußball, seinen alten Teddybären. Heulend wird sie sogar den Hund verkaufen für wissenschaftliche Experimente. Aber das Geld wird nicht lange reichen, und wie soll es dann weitergehen?

Wird der junge Mann kriminell werden? Oder sich als Freiwilliger zur Armee melden? Oder wird er unter Aufgabe von Würde und Schamgefühl beginnen, mit Aktien zu handeln? Ich wünsche ihm von Herzen alles Gute. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter, blicke ihm fest in die Augen und sage: »Als sie die Telefone abholten, habe ich geschwiegen – mich ruft ja keiner an. Aber wenn sie die Toiletten holen kommen, dann werde ich aufstehen. Auf mich kannst du dich verlassen! Sag das auch deiner Schwester!«

Erschrocken reißt er sein Köfferchen an sich und stürzt aus dem Abteil. Überwältigt von Gefühlen wahrscheinlich. Ach, er ist zu sensibel für diese Welt!