Robert Naumann: Wie ich einmal mit einer betrunkenen Obstfliege Tacheles geredet habe

Ich sitze in der Küche und trinke Rotwein. Mehr brauche ich nicht. Sitzen und Trinken sind zwei Tätigkeiten, die mich vollkommen ausfüllen. Damit bin ich ein beneidenswertes Subjekt in unserer heutigen Reizüberflutungsgesellschaft. Ein normaler Teenager würde halb sitzen und halb liegen, Bier aus der Dose trinken, er hätte Kopfhörer auf, die ihn mit Techno beschallen, einen Kaugummi im Mund, ab und zu würde er sich ein Stück Pizza in den Mund stopfen, es ohne zu kauen runterschlucken, er würde die Bravo dabei lesen, sich gleichzeitig mit seinen Eltern unterhalten, und weil ihm das alles noch nicht genug Reize sind, könnte man ihn dabei beobachten, wie er immer mit dem Ring an der Bierdose wackelt. Und nach fünf Minuten würde er sich dermaßen langweilen, dass er mit dem ganzen Zeug ins Kinderzimmer verschwindet und seine Playstation hochfährt, um ein paar Aliens abzuknallen.

Ich sitze und trinke schon seit Stunden und mir wird nicht langweilig. Ab und zu gucke ich nach der Obstfliege, die seit geraumer Zeit um mein Weinglas schwirrt. Ein Wasserglas steht auch auf dem Tisch, aber das scheint sie nicht zu interessieren. Sie will sich besaufen, das ist offensichtlich. Traut sich aber nicht, wegen der großen Hand, die das Weinglas festhält. Ich nehme die Hand weg, die Obstfliege saust im Sturzflug in den Wein. Binnen Sekunden ist sie vollkommen besoffen.

Weil ihre Leber so klein ist, kann sie den Alkohol nicht so schnell abbauen. Oder vielleicht haben Obstfliegen gar keine Leber. Dann wird sie höchstwahrscheinlich sterben. Ich tauche meinen Finger als rettenden Strohhalm in das Glas. Die Obstfliege krabbelt mühsam daran hoch, ihre Bewegungen sind unkoordiniert. Aus ihren roten, geschwollenen Augen schaut sie mich verzweifelt an, dann kotzt sie auf den Küchentisch.

Das kleine Ding tut mir leid. Sie weiß ja nicht, dass das Schlimmste erst noch kommt, morgen früh, wenn sie aufwacht. Falls sie überhaupt jemals wieder aufwacht. Warum hat sie das getan? Vielleicht war ihr einfach nur langweilig. Obstfliegen haben ja nicht so viel zu tun, die haben praktisch ihr ganzes Leben Urlaub. Schon möglich, dass einem da die Decke auf den Kopf fällt. Zumal in meiner Küche. Kein Radio, kein Fernseher, nur ich und der Wein. Da langweilt sich selbst die genügsamste Obstfliege. Wahrscheinlich ist es auch noch so eine Teenager-Obstfliege, die womöglich in einer lauten und bunten WG-Küche wohnt und nur aus Versehen in meiner Küche gelandet ist. Das muss wie ein umgekehrter Kulturschock für sie gewesen sein.

Sie hat sich inzwischen ein wenig berappelt und macht schon wieder ein paar verunglückte Flugversuche. Schließlich sieht sie ein, dass sie zum Fliegen zu betrunken ist, torkelt auf das Weinglas zu und macht sich daran es hinaufzuklettern. Törichtes kleines Geschöpf! Entweder ist sie bereits alkoholkrank oder ziemlich dumm. Kurz bevor sie den Rand des Glases erreicht, schnippe ich sie vom Glas. Entrüstet blickt sie mich an, zitternd vor Wut. Wenn sie einen Stachel hätte, würde sie mich jetzt stechen. Ganz schön undankbar. Immerhin hab ich ihr gerade das Leben gerettet. Erneut steuert sie das Glas an, aber ich bin schneller und trinke es in einem Zug aus. Resigniert läßt sich die Obstfliege fallen und schläft ihren Rausch aus.

Es ist fast dunkel, als sie erwacht. Sie hat gräßliche Kopfschmerzen und muss erneut kotzen. Es ist der richtige Zeitpunkt, um ihr ein bisschen ins Gewissen zu reden. Ich erkläre ihr, dass sie wieder lernen muss, sich auch an den kleinen Dingen zu erfreuen. Dass sie als Obstfliege zum Beispiel einen faulen Apfel nicht einfach hinnehmen, sondern ihn bewusst genießen soll. Und dass man dann auch keinen Alkohol braucht.

Ich weiß nicht, ob meine Moralpredigt etwas bei ihr bewirkt, aber immerhin klettert sie an meinem Arm hoch und setzt sich auf meine Schulter. Vielleicht ist es ein Zeichen, dass sie bereit ist, es zu versuchen. Gemeinsam gucken wir aus dem Fenster und beobachten den Sonnenuntergang. Mehr brauchen wir nicht.