Nils Heinrich: Die blasphemische Bärbel

Als ich 15 und 16 war, gab es noch die DDR, und den Freitagabend in der Sangerhäuser Provinz verbrachte ich regelmäßig in der Jungen Gemeinde. Beten, Tee trinken, Tischtennis spielen. Und alle lächeln. So lieb, so heilig, so langweilig.

Nur nicht an jenem Abend, als mitten durch die Gebetsgemeinschaft ein Tornado tobte. Zunächst war alles wie sonst an jedem anderen langweiligen Freitag auch: Jeder hält den Kopf gesenkt und betet. Manche haben dabei die Finger seemannsknotenartig ineinander verhakt, andere halten die geöffneten Handflächen nach oben als wollten sie irgendwas fangen, das Gott jeden Augenblick runter wirft. Alle schweigen und atmen flach, bis der Erste was vorbetet. Das ist Justus, Sohn eines Parteisekretärs und einer Staatsbürgerkundelehrerin, aber komplett anders drauf als die Eltern. Justus ist 300% frommer als zum Beispiel Wibke, die Pfarrerstochter mit diesen verdammt engen Jeans, von der man munkelt, dass sie schon getan hat, das, was man selbst gerne schon mal hätte, die soll schon mal  gefickt haben! Was ja auch logisch ist, denn wenn Söhne von Parteisekretären an Gott glauben, dann sind junge Pfarrerstöchter auch willig! Von Wibke stammt auch der Ausspruch, dass Justus die Heiligkeit mit Löffeln gefressen habe. Mit Esslöffeln. Ach was, mit Suppenkellen habe er sie gefressen! Wer so ordinär ist, hat doch garantiert schon mal gefickt!

Justus sächselt jetzt laut sein Gebet in die Runde und alle hören zu: »Lieber heiliger Vater im Himmel, ich danke Dir für den Tag, den ich heute erleben durfte. Ich danke Dir, dass ich nicht böse krank geworden bin, dass ich zu essen hatte, auch wenn es heute wieder keine Bananen gab. Ich danke Dir, dass mich kein Auto überfahren hat. Ich danke Dir, dass es nicht so viele Autos in der DDR gibt. Lieber Vater, Du sorgst für mich wie meine Mutter nie für mich gesorgt hat und leitest mich wie ein Wegweiser. Ich danke Dir für meine Eltern, auch wenn sie Arschlöcher sind. Ich weiß, Vater, dass Du das eines Tages einrenken wirst. Ich liebe Dich von ganzem Herzen. Danke, lieber Vater, Du bist echt supi! Amen.«

Illustration: Oliver Grajewski

Und alle: »Amen.«

Dann Stille. Jemand versucht leise, seinen Rotz in der Nase hoch zu ziehen. Alle können es hören. Auch Gott. Und wie der Handrücken schmatzend die schleimende Nase abreibt, können alle hören. Und auch wie die Hand an der Hose abgewischt wird. Ich blinzle nach oben: Bernhard ist das. Ich werde ihm später nicht die Hand geben.

Jemand flüstert: »Brauchst Du ein Taschentuch?«

»Ja.«

Dann ist wieder Stille, bis zu Bärbel: »Lieber Herrgott, ich bin Dir dankbar, dass Du mir den Tag heute relativ leicht gemacht hast. Ich mache ja gerade eine beschissene Phase durch, wie gesagt, Du weißt warum. Aber weißt Du, heute habe ich mich im Spiegel betrachtet und habe gesehen, dass ich wieder lächeln kann. Glaube jedenfalls, dass das ein Lächeln war. Sollte es eins gewesen sein, war das eine extrem schöne Erfahrung. Dafür danke ich Dir, lieber Herrgott. Amen.«

Und alle: »Amen.«

Schweigen. Alle wissen, warum Bärbel eine schwere Zeit hat. Bärbels Mann, der Jugendpfarrer Thomas, mit dem sie seit zehn Jahren verheiratet ist und zwei Kinder hat, ist letzten Monat ausgezogen. Thomas wohnt jetzt bei seinem Freund, der ihm gezeigt hat, was seine wahre Sexualität ist. Und in diesem Moment sitzen beide Bärbel genau gegenüber. Hand in Hand. Und schweigen zusammen mit Bärbel und den anderen. Die ganze Stadt lacht über Bärbel. Nur hier lacht keiner, nicht laut jedenfalls.

Bärbel noch mal: »Weißt Du, lieber Herrgott, bitte verzeih, dass ich zur Zeit richtig schlechte Gedanken habe. Lieber Herrgott, ich weiß, dass Du unfehlbar bist. Aber manchmal denke ich, Du hast echt den Arsch offen. Ja! Manchmal denke ich wirklich, Du bist ein Arsch. Entschuldige bitte. Aber das musste mal raus. Ich meine, der andere Mist, den Du verbockst, also Hunger und Krieg und so, das ist mir egal, Ich habe keinen Hunger und Krieg gibt’s hier auch nicht. Aber DAS, ich meine, wie kannst Du mir so was antun? Nach zehn Jahren Ehe? Bin ich hässlicher als’n Mann? Ist es das? Ist das Deine Art, April, April! zu sagen?«

Justus sagt leise und bestimmt: »Bärbel! Bärbel! Psscht, psscht! Bärbel!«

Doch Bärbel macht weiter. Sie mäht jetzt alles nieder, was sich ihr in den Weg stellt: »Und hast Du meiner Schwester eingeredet, dass sie mir sagen soll, dass das alles vielleicht an meiner Unterwäsche liegt? Was geht die meine Unterwäsche an? Kann der doch egal sein, dass lila und grün meine Lieblingsfarben sind! Warum soll ich noch an Dich glauben, hä? Kriegst doch eh nichts auf die Reihe! Guck Dir doch einfach mal Deine so genannte Schöpfung an. Ey, was da für Arschlöcher rumlaufen. Ich sag Dir was, Gott, Du bist ein Versager auf der ganzen Linie!«

Sie pausiert, hat einen Einfall und tut ihn umgehend kund: »Nee, bist du nicht, weil, weil, dich gibt’s gar nicht! Wenns dich gäbe, hätte ich nicht mit einem Schwulen schlafen müssen, um schwanger zu werden. Ja, genau, ihr Pappnasen, hört her, Gott ist tot! Gott war nie da! Ihr betet hier jeden Freitag die Rauhfasertapete an, haha, ihr macht Tapetenbeten! Tapetengebetsgemeinschaft! Ihr seid doch nur hier, weil’s zur Weihnachtsfeier hier im Gemeindehaus immer Duplo und Ferrero Küsschen gibt, die euch eure Westverwandten nie mitbringen! Weil ihr keine habt! Weil dieser angebliche Gott euer einziger Westverwandter ist! So sieht’s doch aus!«

Angstgeweitete Augen blicken in Richtung der Zeternden, die soeben vom Glauben abgefallen ist. Uta, Dagmar, Birgit und Jaqueline halten sich die Ohren zu, Mario befühlt die Tapete, flüstert fassungslos: »Das ist nicht wahr!« Daniela und Viola umklammern sich und weinen laut, Justus schießt aus dem Zimmer in den Flur, wo die Tische stehen mit den Teekannen, und er kommt zurück mit einer Tasse voller Tee und sagt leise, aber sehr deutlich: »Bärbel, nach all den vielen Worten hast Du Dir eine kleine Pause verdient. Der Tee hier ist auch nicht mehr so heiß, den kannst Du gleich so wegtrinken.«

Bärbels Verhängnis in diesem Augenblick ist, dass sie zwar nicht mehr an Gott, wohl aber an Justus glaubt. Sie nimmt einen großen Schluck Tee, der frisch aus einer Thermoskanne in die Tasse geschüttet worden war, und man kann förmlich hören, wie es auf ihrer Zunge knistert, weil die kleinen Geschmacksknospen zu kochen anfangen. Bärbel kreischt auf, die Teetasse fliegt im hohen Bogen davon, zerschellt am Kruzifix an der Wand, der restliche Tee tränkt die Rauhfasertapete.

Justus fragt, ob noch jemand Tee will. Alle schütteln heftig den Kopf, worauf hin er die Gebetsgemeinschaft beendet mit den Worten: »Wer Gott lästert, verbrennt sich den Mund.«