Dan Richter: Der Weg zur Tugend

Anton schaute mich entschuldigend an, als wir bei Frankies Plattenboutique eintrafen. Ich hatte mir schließlich die Mühe gemacht, ihn in jenem Dezember in seinem Dorf bei Flensburg zu besuchen, und da war es seine Idee gewesen, abends mit seinem neuen Golf in Frankies Plattenboutique zu fahren. Nun aber stellte sich heraus, dass es tatsächlich eine dieser übriggebliebenen westdeutschen Wellblechhhallen aus den 80ern war, in denen die immer gleiche Puckermusik aufgelegt wird. Und Anton durfte nicht einmal trinken, da er uns ja auch noch irgendwann nach Hause fahren sollte.

Zu allem Überfluss wurde Anton sehr bald auch noch von Bodo erkannt, einem früheren Schulfreund aus einem Nachbardorf, der sich einfach nicht von uns abwimmeln ließ. Wir gaben ihm Winke mit dem Zaunpfahl, er möge uns in Ruhe lassen. Aber, um korrekt im Bild zu bleiben, man muss sagen, wir hieben ihm die Zaunpfähle regelrecht auf seinen Dorftölpelschädel. Doch als er die Frage stellte: »Wie fahrt ihr denn eigentlich nach Hause?«, wurde uns klar, worum es ihm eigentlich ging. Anton flüsterte mir zu: »Dem haben sie vor zwei Monaten den Führerschein abgenommen.«

Er wandte sich wieder an Bodo: »Na, wir wissenʼs noch nicht«, log er, »wir sind auch mit dem Taxi gekommen, vielleicht reißen wir ja noch ʼne Mieze auf.« – »Ja. Ha, ha.«

Unsere Versuche, Bodo abzuwimmeln, nahmen schließlich unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Gegen zwei Uhr gaben wir auf: »Bodo, wir fahren jetzt nach Hause.« Bodo stützte sich auf meine Schulter, hob in der belehrenden Art, die einige Betrunkene so drauf haben, den Zeigefinger und atmete mich an: »Aber wie, meine Herren? Aber wie? Das ist doch hier die Frage, meine Herren Geschworenen! Aber wie?« – In gewisser Weise stellten Anton und ich uns dieselbe Frage – wie konnten wir das Auto benutzen, ohne von Bodo der Lüge überführt zu werden. Anton senkte seine Stimme: »Hey, wir klauen eins.« Er sah mich scharf an. Ich antwortete kühl: »Okay. Lass uns eins klauen.«

Es war, als hätten wir einen Eimer kaltes Wasser über Bodo gekippt. Er war beinahe wieder nüchtern: »Seid ihr wahnsinnig? Ihr könnt doch nicht einfach ein Auto klauen.«

»Ach was heißt klauen, wir borgenʻs uns doch bloß. Also was ist, machst du mit?«

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Bodo so unter dem Druck seines Gewissens zu sehen entschädigte mich für all den Stress, den er uns in den letzten Stunden bereitet hatte. Dann rang er sich zu einem geflüsterten »Okay!« durch.

»Gut«, Anton legte seinen Arm um Bodo: »Du stehst Schmiere und Dan und ich knacken die Karre. Das Werkzeug hast du dabei, Dan?«

»Logisch. Immer am Mann.«

Während wir uns anzogen und die Discothek verließen, schüttelte Bodo immer wieder den Kopf: »Ihr seid wahnsinnig, ihr seid echt wahnsinnig.« Mich musterte er immer wieder von der Seite, inzwischen hielt er mich wahrscheinlich für einen ausgebufften Gangster. Während Anton und ich uns auffällig unauffällig mit dem Autoschlüssel an Antons Golf zu schaffen machten, sahen wir Bodo am Rand des Parkplatzes, wo wir ihn zum Schmiere stehen abgestellt hatten, zittern – ob vor Angst oder Kälte konnten wir nicht mit Sicherheit sagen.

Obwohl der Frost uns unter die Handschuhe kroch, durften wir uns mit dem Aufschließen nicht zu sehr beeilen, denn das hätte Bodo stutzig werden lassen können. Nach zwei Minuten winkten wir ihm zu. Leicht geduckt kam Bodo angerannt und zwängte sich auf den Rücksitz des Golfs. Ich hatte schon auf dem Beifahrersitz Platz genommen und fragte mich, wie weit wir die Sache treiben müssten, damit Bodo klar würde, was hier gespielt wird, aber der bekam nicht einmal Zweifel, als Anton zielsicher den Eiskratzer aus dem Handschuhfach langte, um mit diesem in aller Ruhe die zugefrorene Frontscheibe freizuschaben. Bodo litt Qualen auf dem Rücksitz: »Ihr seid wahnsinnig! Mann, beeilt euch wenigstens!« Endlich war Anton fertig, und wir fuhren los.

An jeder Straßenkreuzung beugte sich Bodo nach unten, um nicht von etwaigen Zeugen erkannt zu werden. Allerdings machte sich auch allmählich die betäubende Wirkung des Alkohols bei ihm wieder bemerkbar. Sein ewiges »Ihr-seid-wahnsinnig!« wurde so langsam sein privates Einschlaflied. Ich fror immer noch und als ich sah, dass auch Anton Handschuhe trug, entschied ich, dass Bodo nicht das Recht habe, vor uns einzuschlafen.

Ich drehte mich zu ihm um: »Bodo?«

»Ihr seid wahns… Was is?«

»Bodo, wo hast du deine Handschuhe?«

»Was'n für Handschuhe?«

»Sag mal Bodo, du hast doch nicht etwa hier im Auto irgendwas mit bloßen Händen berührt.«

Es folgten fünf Sekunden dramatischen Schweigens. Dann brüllte Bodo: »Scheiße! Scheiße! Jetzt ham mich die Bullen. Scheiße, jetzt komm ich in den Knast. Anton, warum hast du diesen Berliner Ganoven hierhergebracht? Scheiße! Jetzt hamse mich am Arsch!«

»Nee, Bodo«, sagte ich zu ihm, »das Problem ist – jetzt hamse Anton und mich am Arsch, weil du dich unprofessionell verhalten hast.«

»Scheiße, der Typ ist ja echt ʻn Gangster!«

Ich zündete mir eine Zigarette an. Anton meinte: »Jetzt gibtʼs nur noch eins.«

Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. Also fragten Bodo und ich gleichzeitig: »Was?«

»Wir müssen die Karre verbrennen!«

Bodo flippte aus: »Ihr seid wahnsinnig!« Ich hatte alle Mühe, meinen Lachanfall zu verbergen. Als ich mich wieder unter Kontrolle hatte, sagte ich: »Dann will ich aber nicht wieder diesen Amateur hier dabei-haben.«

Bodo stieg weit vorm Ortseingang aus und wir ließen ihn in dem Glauben, wir würden nun in den Wald fahren und das Auto anzünden.Was aus Bodo geworden ist, weiß ich nicht. Anton sieht ihn wohl nur noch selten, was möglicherweise damit zu tun hat, dass Bodo seitdem einen weiten Bogen um zwielichtige Gestalten schlägt. Es fühlt sich gut an, jemandem auf den Weg zur Tugend zu helfen.